Das große Schweigen

Auf ihrem Parteitag in Köln versuchen die Grünen, jede echte Debatte zu vermeiden. Dabei gäbe es doch Grund zum Streit: Das Fraktionspapier zur „grünen Marktwirtschaft“

Was beim Stichling die rote Brust, ist das Wort „Markt“ für grüne Wirtschaftspolitiker: ein Mittel zur Balz

„Grüner ist besser“ lautet das Motto des Grünen-Parteitags. Leider wird kaum deutlich, was da genau verbessert werden soll. Denn „klare Orientierung“, die Grünen-Chef Reinhard Bütikofer verspricht, ist auf dem Parteitag nicht zu erwarten. Stattdessen macht es eher misstrauisch, dass die grüne Homepage „interessante Fragen“ und „offene Debatten“ ankündigt. Das wirkt wie das verzweifelte Werben für ein langweiliges Ereignis. Vage transportiert wird damit nur die Botschaft, dass die Grünen offenbar nichts mehr zu sagen haben.

Die Spannung steigt auch keineswegs, wenn man die beiden zentralen Anträge zur Klimapolitik und zur Grundsicherung liest, die die Parteispitze verfasst hat, um immerhin 845 Delegierte zu überzeugen. Das Papier zur „Ökologiepolitik“ umfasst zwar lange acht Seiten. Doch werden dort nur „mögliche Projekte“ abgehandelt, die überdies „nicht die einzigen denkbaren“ sind. Ebenso erstaunlich ist es, wenn dieser Antrag dann nur in dem „Auftrag“ kulminiert, dass der Bundesvorstand „2007 ein Forum Neue Ökologische Politik einberufen“ soll, das dann wiederum den „Dialog sucht“. 845 Delegierte treffen sich also in Köln, um dort zu debattieren, dass sie im nächsten Jahr weiter debattieren wollen.

Aber gut, könnte man denken, Diskussionen schaden nie – zumal der Kreis erweitert wird und diesem neuen Forum auch noch das „befreundete Umfeld“ angehören soll. Allerdings irritiert es doch, dass auch der zweite wichtige Antrag zum Thema Grundsicherung nicht mehr zu bieten hat. Dort formuliert der Bundesvorstand ebenfalls den Auftrag an sich selbst, „eine repräsentativ zusammengesetzte Kommission einzurichten“, die „entsprechende Diskussionen in der Partei fördern soll“. Es wird zum Refrain: 845 Delegierte treffen sich also in Köln, um dort zu debattieren, dass sie im nächsten Jahr weiter debattieren wollen.

Die Grünen haben es geschafft, von einer Öko-Partei zu einer Meta-Partei zu mutieren: Diskussionen werden nicht geführt, sondern simuliert. Dieser Trick ist nicht neu. Aber beliebt war er bisher vor allem bei Regierungsparteien, die verhindern wollten, dass die Basis die mühsam im Kabinett abgestimmten Sachzwang-Kompromisse stört. Die Grünen sind jedoch Oppositionspartei, und darin so gründlich wie keine sonst: Sie sind in keiner einzigen Landesregierung mehr vertreten. Da könnte man sich echte Debatten durchaus gönnen.

Anderswo finden diese Diskussionen schließlich längst statt. So haben die neun Wirtschaftspolitiker der Bundestagsfraktion gerade ein 43-seitiges Papier zur „grünen Marktwirtschaft“ verfasst, das sie unter das provokante Motto stellten: „Die unsichtbare Hand des Marktes wird grün“. Diese ironische Anspielung auf den Nationalökonomen Adam Smith ist mehr als nur ein netter Witz: Die neun Fraktionsautoren wollen die Grünen neu positionieren, wollen sie für Koalitionen mit der CDU und gar der FDP aufhübschen. Es geht zu wie bei der Balz: Damit das Objekt der Begierde auch ja bemerkt, dass Nähe erwünscht ist, wird das Liebessignal so oft als möglich hinterlassen: Was beim Stichling die rotgefärbte Brust ist, das ist bei den grünen Wirtschaftspolitikern das Wort „Markt“. Hartnäckig streuen sie es über ihren gesamten Text, damit CDU und FDP die Avancen bloß nicht übersehen.

Taktisch ist dieses Kalkül verständlich, mussten doch die Grünen in Baden-Württemberg und in Berlin jüngst erleben, dass sie zwar beste Wahlergebnisse einfahren, aber trotzdem für eine Landesregierung entbehrlich sind. In einem Fünf-Parteien-System muss man inhaltlich sehr flexibel sein, um an die Schalthebel der Macht zu kommen. Das inbrünstige Bekenntnis zur Marktwirtschaft allein muss auch noch nicht irritieren; schließlich fordert ja nicht einmal die PDS wirklich den Sozialismus. Und niemand bezweifelt, dass Konkurrenz sehr effizient sein kann, um Wohlstand herzustellen. Aber Wohlstand für wen? Der Markt ist überfordert, wenn er für Gerechtigkeit sorgen soll. Der Kapitalismus neigt dazu, die Kapitaleigner zu begünstigen. Gerechtigkeit ist ein politisches Gut, kein ökonomisches. Der Staat muss eingreifen, damit es gerecht zugeht. Ein zentrales Instrument dabei sind die Steuern, die tatsächlich steuern, wie der Name so schön sagt. Daher ist es keineswegs ein banales Detail, dass die grünen Wirtschaftspolitiker zwar 43 Seiten verfasst haben, aber eine markante Lücke offengelassen haben: Es findet sich bei ihnen kein systematisches Kapitel zur Steuerpolitik.

Diese Leerstelle erstaunt bei einem Wirtschaftspapier – zumal die Autoren ambitionierte Forderungen erheben. Sie wollen den Haushalt sanieren, in Bildung und Forschung investieren, erneuerbare Energien subventionieren, die Sozialbeiträge für Niedrigverdiener senken, die Kinderbetreuung ausbauen sowie eine bedarfsorientierte Grundsicherung schaffen. Gegen diese Ziele ist nichts zu sagen, so teuer sie sind – aber wer das finanzieren soll, bleibt nebulös. Offenbar wollten sich die Autoren nicht in die leidige Debatte verstricken, wer gewinnt und wer verliert. Doch genau dort beginnt Politik. Auch Parteichef Bütikofer scheint das Papier nicht zu goutieren, wie beharrlich in den Medien kolportiert wird – stets mit dem süffisanten Unterton, dass es ja von seinem Vorgänger Fritz Kuhn stamme. Wie auch immer: Es ist schade, dass dieser Dissens nicht auf dem Parteitag ausgetragen wird. Die Delegierten hätten sich bestimmt gern an einem echten inhaltlichen Streit beteiligt.

Bütikofer scheint das Papier zu ignorieren, damit es keine zusätzliche Bedeutung erhält. Nach dem Motto: Was kümmert die Partei, was sich die Fraktion ausdenkt. Aber damit wird die Brisanz des Papiers verkannt, dessen Inhalt längst nicht so wichtig ist wie die veränderte Rhetorik. Wenn die Grünen den Text nicht breit diskutieren, erhält die Fraktion ein unausgesprochenes Mandat zu „mehr Markt“, und damit zu einer irgendwie gearteten neoliberalen Umdeutung.

Sparen bei den Armen, Steuergeschenke für Reiche: Das hat die Glaubwürdigkeit der Grünen erschüttert

Geschichte scheint sich zu wiederholen. Schon einmal hat die Fraktion die grüne Partei wirtschaftspolitisch komplett dominiert – zwischen 1994 und 1998. Damals saß der Schock tief, dass man 1990 von den Wählern aus dem Bundestag entfernt worden war. Nach der Rückkehr ins Parlament wollte die Fraktion „anschlussfähig“ sein und „Sachpolitik“ betreiben. Aus dieser Zeit schon stammen die Ideen zu großen Steuerreformen und zur Teilhabegerechtigkeit, die später den zynischen Satz ermöglicht haben, Hartz IV sei der „Einstieg in die Grundsicherung“. Diese Kombination von Sparprogrammen für die Armen und Steuersenkungen für die Vermögenden haben die sozialpolitische Glaubwürdigkeit der Grünen bis heute erschüttert. Die Partei hat dazu weitgehend geschwiegen.

Diesmal ist wieder ein Schock zu überwinden: der Verlust aller Regierungsämter. Doch darauf sollte nicht erneut das große Schweigen folgen. Die Partei muss sich ihre Hoheit über die Debatte zurückerobern. Dafür aber genügt es nicht, zu diskutieren, dass man in Zukunft weiter diskutieren will.

ULRIKE HERRMANN