„Ich weiß nicht, ob sie leben“

RELIGION In Bremen wird für die Rechte der im Irak von Dschihadisten bedrohten Jesiden demonstriert

■ 37, ist friedenspolitischer Sprecher der Linksfraktion in der Bürgerschaft und musste als Angehöriger der jesidischen Minderheit 1985 aus der Türkei nach Deutschland fliehen.

taz: Herr Tuncel, die jesidische Gemeinde in Deutschland warnt vor einem Völkermord an ihren Glaubensangehörigen im Irak. Heute soll auch in Bremen demonstriert werden. Wie ist die aktuelle Lage?

Cindi Tuncel: Am Wochenende ist die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in die irakische Region rund um die Provinzhauptstadt Shingal, dem Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden eingedrungen. Rund 200.000 Jesiden sind derzeit auf der Flucht. Mehr als 100 Frauen wurden von den Terroristen entführt, ich habe selbst Familie dort. Ich kenne Berichte, wonach über 80 Menschen, die zwangsislamisiert werden sollten und sich weigerten, umgebracht wurden.

Sind die Jesiden stärker betroffen als beispielsweise Christen oder Juden?

Ja. In den Augen dieser unmenschlichen Terroristen gelten die Jesiden als Sekte und Teufelsanbeter. Diese Religion ist über 4.000 Jahre alt. Ich kenne Fälle, wo entführte Christen oder Juden sich freikaufen konnten – bei den Jesiden ist das nicht möglich. Und ich habe Videos gesehen, wo vor den Augen der Eltern Kinder geköpft werden.

Ist Ihre eigene Familie auch in Gefahr?

Jeside wird man nur durch Geburt, wir sind alle über Ecken und Kanten miteinander verwandt. Ich habe auch Familienmitglieder, die in Shingal leben, ich weiß nicht, wie es ihnen gerade geht und ob sie noch leben. Mir tut es am meisten weh, wenn ich höre, dass Kinder, die auf der Flucht sind, verdursten.

Was kann und soll die internationale Gemeinschaft tun?

Die Terroristen sind früher unterstützt worden, die Türkei hat ihnen die Tür aufgemacht, Saudi-Arabien und Katar haben Waffen geliefert – die wiederum aus dem Westen kamen, auch aus Deutschland. Das muss aufhören. Es droht eine humanitäre Katastrophe. In der Geschichte der Jesiden ist es das jetzt schon 73. Mal, dass versucht wird, sie zu vernichten. Es müssen jetzt so schnell wie möglich Wege gefunden werden, auf denen die Jesiden unterstützt werden können, damit sie Essen und Trinken erhalten und in Sicherheit kommen. Die Weltgemeinschaft darf nicht wegschauen. INTERVIEW: JAN ZIER

Demo: 15 Uhr, Bahnhofsvorplatz