„Mobilisierung in ungekannter Dynamik“

BERLIN taz | Mit Massendemonstrationen und dezentralen Protesten wollen Umweltverbände in Deutschland auf die Kernreaktorkatastrophe in Japan reagieren. Organisationen wie Attac, der BUND, die Naturfreunde und Robin Wood kündigten am Montag für die kommenden Wochen massive Proteste an. So soll es noch vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg bereits am 26. März zu Großdemos in Berlin, Hamburg und Köln kommen. Weitere Massenproteste planen die Organisationen anlässlich des 25. Jahrestages von Tschernobyl für den 25. April an 13 Atomkraftwerken und Atommüllstandorten. Bereits zum gestrigen Abend hatten Atomkraftgegner an rund 400 Orten bundesweit zu spontanen Mahnwachen aufgerufen.

„Eine Mobilisierung dieser Geschwindigkeit habe ich noch nie erlebt“, sagte Jochen Stay, Sprecher der Initiative „ausgestrahlt“, am Montag der taz. Die Menschen in Deutschland seien geschockt und drückten den Kernkrafttechnikern in Japan die Daumen, sagte Stay. „Aber es ist gefährlich, dass die Bundesregierung nach diesen Vorfällen versucht, die Leute in Deutschland rein symbolisch zu beruhigen.“

Auch der Berliner Protestforscher Dieter Rucht sagte der taz, er sehe „eine in Deutschland ungekannte Dynamik der Mobilisierung“. Bereits am Wochenende war es in zahlreichen deutschen Städten zu spontanen Mahnwachen gekommen. In Baden-Württemberg waren am Samstag 60.000 Menschen auf die Straßen gegangen. „Die Proteste sind mit den Reaktionen auf Tschernobyl zu vergleichen. Sehr speziell ist allerdings, dass eine solche Dynamik innerhalb von einem Tag entstanden ist“, sagte Rucht. Zwar habe es auch in der Hochphase der Friedensbewegung 1983 und 1984, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 und anlässlich der Volkszählung 1987 ähnlich flächendeckende Mobilisierungen gegeben. Diese seien aber selten in solch rasanter Geschwindigkeit entstanden.

Auch im Internet mehren sich Kampagnen, die von der Bundesregierung eine sofortige Kehrtwende in der Atompolitik fordern. Allein das atomkritische Kampagnen-Portal Campact mobilisierte am Montag innerhalb weniger Stunden zehntausende Unterzeichner für einen Appell an Bundeskanzlerin Merkel.

Die Aktivistenplattform will bundesweit großformatige Protestanzeigen in Zeitungen schalten, sobald 100.000 Menschen den Appell an die Kanzlerin unterschrieben haben. In dem Appell drücken die Unterzeichnenden Fassungslosigkeit und Entsetzen über die Reaktorkatastrophe von Fukushima aus und fordern die Bundeskanzlerin auf, Konsequenzen aus der Katastrophe zu ziehen. Wörtlich heißt es in dem Aufruf: „Machen Sie die Laufzeitverlängerung rückgängig und schalten Sie Atomkraftwerke ab – jetzt und endgültig!“ Mit Flashmobs und Protestaktionen will Campact in den kommenden Tagen überall dort protestieren, wo die Bundeskanzlerin in Erscheinung treten will.

MARTIN KAUL