Kugeln mit Tomatensoße

Lagerfeuergeschichten: Allein im Wald – und plötzlich ist da dieser schreckliche Schrei …

Es hat ein bisschen geklungen wie Papa, wenn er sich mit dem Hammer auf den Finger haut

Ich bin als Erster im Rabenforst gewesen, und das hat mich gewundert, weil, sonst ist René, der Witzbold, immer der Erste, und dann kommen Jakob, der so klasse zeichnet, und Daniel und Sven, die bei uns aber nur Kehlmann-eins und Kehlmann-zwei heißen, weil, sie sind Zwillinge und sehen sich total ähnlich, und gleich danach taucht Bernd auf, der wahnsinnig viel essen kann, und dann warten alle schon auf mich, und Bernd schimpft, dass er seine ganze Verpflegung aufgegessen hat wegen der Warterei. Aber Letzter bin ich nie, denn als Letzter kommt jedes Mal Jochen, über den Herr Piepenbrock sagt, er, also Jochen, würde wohl glauben, dass nach ihm die Sintflut kommt. Herr Piepenbrock ist unser Klassenlehrer, aber ich finde ihn gemein, weil, Jochen ist nicht der Schnellste, aber er ist ein prima Kumpel, und darum darf er auch in unserer Bande mitmachen, obwohl nach ihm die Sintflut kommt.

Ich hab gedacht, na gut, bin ich diesmal Erster, und ich hab gegrinst und mich in unsere Hütte gesetzt. Das ist ein tolles Versteck, das wir aus dicken Ästen und Laub gebaut haben, und da machen wir Schulaufgaben zusammen und haben viel Spaß. Wenn Spaziergänger vorbeilaufen, dann kriegen die gar nicht mit, dass wir da sind, so gut getarnt ist die Hütte, aber weil wir nie richtig still sind, bemerken sie uns doch, aber meistens rufen sie, dass wir uns ja ein tolles Versteck gebaut hätten: „Alle Achtung, wie die Trapper im Indianerland!“

Als ich jetzt allein in der Hütte gesessen hab, hab ich gedacht, dass heute nicht mal ein Indianer die Hütte sehen würde, weil ich ja ganz still gewesen bin, und da hab ich aus dem Eingang geguckt, um zu sehen, ob nicht vielleicht ein Indianer in der Nähe ist. Aber da ist kein Indianer gewesen, und auch René und Kehlmann-eins und Kehlmann-zwei sind nicht aufgetaucht und Bernd und Jakob genauso wenig, und da hab ich ein ziemlich eigenartiges Gefühl bekommen, weil, jetzt ist es langsam sogar für Jochen zu spät gewesen, und Jochen ist immer der Letzte, aber das hab ich ja schon erzählt.

Ich hab mich gefragt, ob ich mich vielleicht im Tag geirrt hab, aber als ich nachgedacht hab, hab ich gewusst, dass der Tag schon stimmt, weil wir uns immer am Mittwoch im Rabenforst treffen, und dass es Mittwoch gewesen ist, das hab ich ganz sicher gewusst, weil Mama Spaghetti mit Tomatensoße gekocht hat, und die kocht sie nur mittwochs, und Spaghetti mit Tomatensoße sind prima!

Ich hab mir die Zeit damit vertrieben, gegen mich selbst Schiffeversenken zu spielen, aber bald hab ich kaum noch was erkennen können, nicht mal mein Rechenheft. Ich hab aus der Hütte geguckt, und der Himmel ist ziemlich dunkel gewesen, und mittendrin hat der Mond gestanden, so rund wie das Gesicht von Jochen, und ich hab gewusst, dass ich jetzt nach Hause laufen muss, weil es sonst Ärger gibt. Aber da hab ich diesen Schrei gehört, und da bin ich lieber zurück in die Hütte geschlichen, denn den Schrei, den wollte ich nicht noch mal hören!

Ich hab ihn dann aber immer wieder gehört, sechsmal insgesamt, und er hat sich immer schlimmer angehört, je dunkler es geworden ist. Der Schrei hat ein bisschen geklungen wie Papa, wenn er sich mit dem Hammer auf den Finger haut und Mama sieht es und lacht über Papa, aber zehnmal so fies. Ich hab mich in unserer Hütte ganz klein gemacht und so wenig wie möglich geatmet, weil ich gemerkt hab, dass da etwas durch den Wald schleicht und schreit wie verrückt, und das ist kein Spaß mehr!

Kurz darauf hab ich ein Schnüffeln gehört am Eingang unserer Hütte und ein Rascheln und ein Röcheln, und es hat ein bisschen so geklungen wie Herr Piepenbrock, wenn er sauer ist auf Jochen, und ich hab vorsichtshalber den Schulranzen vor meinen Bauch gehalten, aber ganz leise, weil, ich hab nicht gewollt, dass mich einer hört. Dann ist so eine Art Kugel durch den Eingang gerollt und dann noch eine und dann noch zwei, und die klackerten mit einem Geräusch gegeneinander wie Kakaobecher, und ich hab fast geheult, weil ich gemerkt hab, dass ich lieber zu Hause bei Mama gewesen wäre, um einen Kakao zu trinken und danach ins Bett zu gehen. Dann ist es lange Zeit still gewesen, bis plötzlich wieder eine Kugel durch den Eingang gekullert ist, und danach hab ich nur mein Herz gehört, das hat geklopft wie verrückt. Irgendwann hab ich mich getraut, das Feuerzeug anzuzünden, das Opa mir geschenkt hat, was Mama aber nicht wissen darf, und dann hab ich erkannt, was das für Kugeln gewesen sind.

Nämlich die Köpfe von René und Jakob und von Kehlmann-eins und Kehlmann-zwei und von Bernd und von Jochen, und sie haben ausgesehen, als hätte man sie mit Mamas Tomatensoße begossen. Und dann hab ich wieder dieses Schnüffeln und Röcheln gehört und es ist immer näher gekommen, und nun hat es in der Hütte auch ganz komisch gerochen, so wie der Hund von unseren Nachbarn, nachdem er im See Stöckchen hinterhergeschwommen ist, aber zehnmal schlimmer.

Und ich hab noch gedacht: Ich krieg bestimmt nie ein BMX-Rad! Weil, Papa hat gesagt, dass ich nur dann ein BMX-Rad krieg, wenn ich in die Vierte komme. Und das wird jetzt wohl nichts mehr … KAY SOKOLOWSKY