„Wie nach Tschernobyl“

PROTESTE Die Atomkatastrophe in Japan bewegt die Republik. Spontan gehen bundesweit 100.000 Menschen an 450 Orten auf die Straße. Nun steht eine neue Protestwelle bevor

 19. März: Dezentrale Demos in zahlreichen deutschen Städten

 21. März: Dezentrale Mahnwachen in ganz Deutschland ■  26. März: Massenproteste gegen Atomkraft in mindestens drei Großstädten ■  9. April: Bundesweiter dezentraler Aktionstag ■  25. April: Großdemos an 13 Atomstandorten Eigene Aktionen und Veranstaltungen können Sie auf dem taz-Bewegungsportal bewerben. Dort finden Sie auch Informationen zu geplanten Protesten und Kampagnen: www.bewegung.taz.de

AUS BERLIN MARTIN KAUL
UND KIM EBERHARDT

Bei Axel Mayer stehen die Telefone nicht mehr still. Es ist Dienstag. Und in dem Hinterhaus mit den schönen Dielen in der Wilhelmstraße 24a in Freiburg herrscht Aufregung. „Es brennt an allen Ecken und Enden. Das erinnert an die Zeit nach Tschernobyl“, sagt Axel Mayer.

Der Geschäftsführer des BUND in Freiburg hat Erfahrung mit Anti-AKW-Protesten. Gegen Wyhl hat er damals gekämpft, als dort ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, und nach dem Unfall von Tschernobyl war an der Organisation der Proteste beteiligt. An diesem Dienstag kommen die Leute in sein urwüchsiges Büro mit den vielen Protesterinnerungen an den Wänden und wollen ein altes Plakat wieder hervorholen: „Nai hammer gsait!“ („Nein haben wir gesagt!“)

Mit diesem Slogan begann in Wyhl in Baden-Württemberg 1975 der Aufbruch der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland. Und nach der Reaktorkatastrophe in Japan deutet sich heute ein neuer Höhepunkt der Bewegung an.

An 450 Orten in ganz Deutschland gingen am Montagabend spontan bis zu 100.000 Menschen auf die Straße. Sie folgten den Aufrufen zu Mahnwachen, um der Opfer der Reaktorkatastrophe in Japan zu gedenken. Doch sie wollen nicht nur gedenken, sie wollen, dass sich auch etwas ändert.

Vor dem Bundeskanzleramt in Berlin steht an diesem Abend viel Prominenz: Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ist gekommen, Claudia Roth und Jürgen Trittin von den Grünen, Linken-Chefin Gesine Lötzsch und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer. Viele haben Tränen in den Augen. Sie tragen weiße Rosen und legen Grablichter nieder. Doch es sind gerade nicht die großen Köpfe der Opposition, die diese Mobilisierung anschieben.

In vielen kleinen Orten der Republik sind es Dutzende oder Hunderte, die demonstrieren. In Nürtingen oder Schwäbisch Gmünd, in Bautzen, Niebüll, Gladenbach.

Tim Petzold hat in Bonn ein neues Mahnmal aufgestellt: Ein großes gelbes X steht nun am Hauptbahnhof. Jede Woche hatte die Anti-Atomkraft-Initiative hier Mahnwachen veranstaltet, doch in letzter Zeit bröckelte es. Am Montagabend kamen dann 2.000 Menschen hier spontan zusammen.

Es sind Menschen wie Stephan Kolb in Nürnberg. Der Arzt aus dem Nürnberger Klinikum hat die dortige Mahnwache zwischen zwei Termine geschoben. Sonst, bei den wöchentlichen Mahnwachen, stehen hier nur wenige, mal ein Dutzend, mal zwei. Der 46-jährige Kolb, Mitglied der Ärzte gegen den Atomkrieg, sagt: „Hier verzehnfacht sich gerade der Zulauf.“ Er ist überzeugt: „In den kommenden Tagen werden viele Menschen ihre persönliche Protestpremiere feiern.“ Die Mütter gegen Atomkraft sind da, Studenten, Friedensaktivisten und solche Demonstranten, die sonst gegen Hartz IV protestieren.

Nicht nur in den Städten, auch an Atomkraftwerksstandorten zeigte sich am Montag ein Protest, der nun zu einer neuen Welle von Demonstrationen führen soll. Am Kernforschungszentrum Jülich protestierten sie, und am Zufahrtstor des Atomkraftwerks Biblis ketteten sich Montagnacht zwei AktivistInnen fünf Stunden lang ans Zufahrtstor und blockierten so die Zufahrt zum AKW – just zu der Zeit, als aus Regierungskreisen bekannt wurde, dass das AKW eines der ersten sein könnte, die nun vom Netz genommen werden, vorerst zumindest.

Doch auch am Dienstag, nachdem Angela Merkel scheibchenweise angekündigt hat, tatsächlich sieben Atommeiler vorübergehend vom Netz zu nehmen, traut auf den Straßen kaum noch jemand der Politik der schwarz-gelben Koalition: „Die Bundesregierung hat ihre Glaubwürdigkeit schon verspielt. Niemand glaubt noch, dass Angela Merkel Politik aus Überzeugung macht“, sagt Stephan Kolb. „Wenn es keine Politik aus Überzeugung ist, dann überzeugt sie auch nicht.“

Und eine der Aktivistinnen am Atomkraftwerk Biblis sagt: „In diesem Moment versucht sich die Regierung mit schwammigen Moratorien um wirkliche Konsequenzen herumzumogeln.“ Gerade jetzt sei es dringend notwendig, den Druck auf der Straße zu erhöhen.

Doch das muss niemand mehr predigen: Längst hat sich ganz dezentral eine Dynamik entwickelt, die für die kommenden Wochen enorme Proteste erwarten lässt. Axel Mayer kommt in Freiburg den vielen Mails und Anrufen kaum hinterher, die bei ihm eingehen. In seinem Büro haben sie auf 14-Stunden-Schichten umgeschaltet. Auch andere atomkraftkritische Initiativen und Verbände stöhnen am Telefon über die Arbeitslast.

Sie haben sich viel aufgebürdet: Mayer will in Baden-Württemberg nun Demonstrationen an allen grenzüberschreitenden Brücken zu Frankreich und der Schweiz planen. Atomkraft, das sei nicht nur eine nationale Frage. Und für den kommenden Montag rufen die Atomkraftgegner der Initiative „ausgestrahlt“ erneut zu dezentralen Mahnwachen auf. Bereits für Samstag rechnen Atomkraftgegner mit neuen Protesten. Und für die nächsten Wochen sind gleich drei Großveranstaltungen geplant, um in Deutschland die Energiewende zu erzwingen.

Am 26. März, einen Tag vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, soll es in Berlin, Hamburg, Köln Großdemonstrationen geben. Vielleicht auch in Stuttgart, vielleicht noch in München. Weitere sollen folgen.

Das Unglück von Japan – in Deutschland hat es eine Bewegung zum Leben erwacht, die sich nach den großen Anti-AKW-Protesten aus dem Herbst letzten Jahres bereits auf einem historischen Höhepunkt wähnte. Die kommenden Wochen werden aufregend sein. Bei Axel Mayer in der Wilhelmstraße in Freiburg. Und sicher auch für Angela Merkel.