Nur vom Lachs dürfen sie leben

Wladimir Maximowitsch hat ein Loch im Strumpf. Er schreitet das Ufer des Amur im fernen Osten Russlands ab. Wie jedes Jahr wartet Maximowitsch auf den Beginn der Fischereisaison im Herbst. Normalerweise ist das eine erwartungsvolle Zeit. Wie jedes Jahr werden die Lachse aus dem Ozean den Amur aufwärtswandern. Doch in diesem Jahr macht sich der Fischer große Sorgen. Von ihnen erzählt er der französischen Fotografin Alexa Brunet.

Wie die anderen Fischer, denen Brunet in den Dörfern Nischni Holby, Kondon und Akone entlang des Armur begegnet ist, kann Maximowitsch nur noch Lachs fischen. Denn der kommt aus dem Ozean. Alle anderen Fische im Amur sind vergiftet, seit vor einem Jahr mehrere hundert Kilometer flussaufwärts am chinesischen Songhua eine Chemiefabrik explodierte. Hundert Tonnen des Krebs erregenden Giftes Benzol flossen damals in den Songhua, einen Zubringer des Amur. Seither ist hier die Süßwasserfischerei verboten.

Maximowitsch und die anderen Fischer müssen deshalb auf ihren Kuttern weit flussaufwärts fahren, um in Nebenflüsse zu gelangen, wo der Fang noch sauber ist. Das ist mühsam und oft erfolglos. Manche Fischer bleiben deshalb lieber zu Hause und verfallen dem Alkohol. Sie wissen, dass sie Hilfe kaum zu erwarten haben. Die russischen Behörden haben bisher keine Schadensersatzforderungen an China gestellt. Es wird vermutet, dass Moskau den wichtigen Handelspartner nicht verärgern will.

Ebenso chancenlos für die Fischer ist die Lage in China: Hier hat die Folgendebatte nach der Giftkatastrophe am Songhua zwar viele Wendungen genommen – doch an die eigentlichen Opfer der Katastrophe wird dabei als letztes gedacht.

Tatsächlich gilt die Katastrophe am Songhua heute als Geburtsstunde einer neuen chinesischen Umweltpolitik. In der nordostchinesischen Provinzhauptstadt fiel im Dezember letzten Jahres für vier Tage die Wasserversorgung aus. Über vier Millionen Menschen tranken nur noch auf Lastwagen transportiertes Mineralwasser. Die Fernsehbilder schockten das ganze Land. Zum ersten Mal sah sich die Regierung in Peking gezwungen, für ein Öko-Desaster öffentlich die politische Verantwortung zu übernehmen. Sie wechselte daraufhin den zuständigen Pekinger Umweltminister aus. Im KP-Kabinett hat das Umweltthema seither einen spürbar erhöhten Stellenwert.

„Das Unglück am Songhua ist zum Wendepunkt für die Geschichte des chinesischen Umweltgesetzesvollzugs geworden“, schreibt die Parteizeitung China Daily. Sie berichtet von 300 Millionen Menschen, die in China keinen Zugang zu Trinkwasser haben. Für sie werde nun endlich was getan. Allein für die Säuberung des Songhua seien 1 Milliarde Dollar bewilligt worden, heißt es in der Zeitung. Den Fischern am russischen Amur aber wird das Geld auch im besten Fall erst in drei, vier Jahren helfen. Erst dann könnten die Fische im Amur wieder essbar sein. GEORG BLUME