„Helden des Verrats“

SITUATIONEN Javier Cercas untersucht in „Anatomie eines Augenblicks“ die historische Szenerie, in der sich Spanien für die Demokratie entschied

■ geboren 1962 in Ibahernando, Provinz Extremadura, Spanien. Lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman „Soldaten von Salamis“ (2001) wurde er international bekannt. „Anatomie eines Augenblicks“ wurde von El País zum Buch des Jahres gekürt. Obwohl ein Sachbuch, wurde es mit dem Premio Nacional de Narrativa ausgezeichnet, dem wichtigsten unabhängigen Literaturpreis Spaniens.

INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH
UND EVA-CHRISTINA MEIER

taz: Herr Cercas, was ist der 23. Februar 1981 für ein Moment in der spanischen Geschichte?

Javier Cercas: Es ist der Anfang der Demokratie und das Ende von Krieg und Nachkriegszeit. In Spanien war die Nachkriegszeit die Fortsetzung des Bürgerkrieges mit anderen Mitteln. Bis zu dem gescheiterten Putschversuch am 23. Februar 1981 gab es immer eine latente Bedrohung durch das Militär. Zwei Jahrhunderte lang existierte eine permanente Gefahr von Bürgerkrieg und Staatsstreich. Diese Tradition ist in diesem Moment zu Ende, das Militär nicht länger eine Bedrohung. Alle Schrecken der spanischen Geschichte laufen in diesem Ereignis 1981 zusammen. Sechs Jahre nach dem Tod Francos, als wir alle bereits angenommen hatten, Demokraten zu sein, tauchte dieser Oberst mit Schnurrbart und Hut wie eine Figur aus einem Lorca-Stück im Parlament auf und brachte den Horror der Vergangenheit ein letztes Mal zurück.

Sie arbeiteten zunächst an einem Roman über den Putsch?Ja, bis mir die Bedeutung der 35-minütigen Kameraaufzeichnungen von Beginn des Putschs bewusst wurden. Diese Aufnahmen sind Material der Realität, aber auch der Irrealität. Sie zeigen, dass die Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, sind aber auch irreal, weil diese Fernsehbilder in gewisser Weise die Vorstellung von den Ereignissen „verunreinigen“. Für viele Leute in Spanien ist Tejero, der Anführer des Putschs, inzwischen eine fiktionale Figur. Aber es kommt etwas dazu, das ich erst sehr spät verstand, als ich vor fünf Jahren die Bilder zum wiederholten Male sah. Es gibt da diese drei Personen, die sich den Putschisten symbolisch widersetzten: General Gutiérrez Mellado, Premier Suárez und Kommunistenchef Carillo. Sie warfen sich nicht zu Boden, sondern blieben sitzen. Warum das? Ich hatte bereits einen ersten Romanentwurf, als ich durch diese Bilder merkte, dass es so nicht funktionierte.

Das war der Moment, als Sie den Roman verwarfen und begannen, an der jetzigen Chronik zum Putschversuch des 23. Februar 1981 zu arbeiten? Genau. Denn der Putsch selber ist eine große kollektive Fiktion. Ein historisches Ereignis, das in den dreißig Jahren danach unter einer Vielzahl von Lügen, Halbwahrheiten und Mythen verschüttet wurde. Es gibt kaum Dokumente darüber. Und jeder Spanier und jede Spanierin hat eine eigene Theorie dazu. Aus literarischer Sicht ist es aber völlig irrelevant, eine Fiktion über eine andere Fiktion zu schreiben. Deshalb beschloss ich, ein nichtfiktionales Buch zu verfassen, um so die Komplexität des Putschs freizulegen. Vielleicht ist es aber trotzdem doch auch ein Roman geworden.

Ausgangspunkt Ihres Buchs sind also die Kameraaufzeichnungen vom Beginn des Putschversuchs im spanischen Parlament. Was ist das Besondere an ihnen?

Die Wahrheit steckt in diesen Fernsehbildern. Man muss den Putsch von dem gesicherten historischen Material aus erzählen. So löst sich das Rätsel langsam auf. Es ist wie in einer der ersten Detektivgeschichten, „Der entwendete Brief“, von Edgar Allan Poe. Der gesuchte Brief befindet sich am Ende leicht auffindbar in einer Ablage. Die Wahrheit ist selten gut versteckt, sondern zumeist für alle sichtbar, nur dass wir sie nicht wahrnehmen. So ist es auch mit diesen Aufzeichnungen, das entscheidende und einzige Dokument vom 23. Februar, das wir besitzen. Warum wirft sich eine Person wie Adolfo Suárez nicht zu Boden? Das ist für mich das sichtbare und eigentlich zu lösende Rätsel.

Sie konzentrieren Ihre Erzählung daher auf Ministerpräsident Adolfo Suárez, General Manuel Gutiérrez Mellado und Santiago Carrillo, die sich den Anweisungen der Putschisten widersetzten. Was vereinte diese drei Personen?

Als die Schüsse im Parlament fielen, wäre es normal gewesen, wie die anderen in Deckung zu gehen. Sie taten es nicht. Die drei waren die eigentlichen Protagonisten des Übergangs zur Demokratie: Suárez, Carrillo und vor allem Gutiérrez Mellado. Carillo war der alte Chef der kommunistischen Partei, einer der von Franco meistgehassten Personen. Suárez, Nachfolger des 1975 verstorbenen Franco und Vorsitzender der neu formierten faschistischen Partei. Sie werden in der Phase des Übergangs, der Transición, zu engen Freunden. Carillo und Gutiérrez Mellado waren während des Bürgerkriegs der 30er Jahre Todfeinde – nun waren sie verbündet. Und Suárez und Gutiérrez Mellado wiederum verband eine absolute Loyalität.

Sie erwähnen in Ihrem Vorwort in diesem Zusammenhang einen Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger, „Die Helden des Rückzugs“ von 1989. Warum? Die drei – Suárez, Carillo und Gutiérrez Mellado – sind in Anlehnung an Enzensberger für mich „Helden des Rückzugs“ oder, wie ich es nenne, „Helden des Verrats“. Sie bilden ein Oxymoron. Das Oxymoron, die Zusammenführung zweier scheinbar gegensätzlicher Begriffe, ist die zentrale Figur des Buchs. Ein klassischer Held drängt vorwärts. Diejenigen, die zurückweichen, sind in ihrem Verhalten ambivalent. Enzensberger nennt dafür einige Beispiele: Gorbatschow, Jaruzelski und eben Suárez, alles Persönlichkeiten, die Regime demontieren. Wir verfügen zwar über eine Ethik der Loyalität, nicht aber über eine Ethik des Verrats. Doch die ist genauso notwendig. In bestimmten Momenten der Geschichte ist der Verrat mutiger, großzügiger und besser als die Loyalität. Gutiérrez Mellado, der General, ist der große Verräter der spanischen Militärs, der von der faschistischen Armee zu den demokratischen Streitkräften wechselte. Bis heute ist ihm der Hass des alten Militärs gewiss. Santiago Carillo ist der große Verräter der kommunistischen Partei, der die großen Träume der Linken aufgibt und aus Kommunisten gemäßigte Sozialdemokraten macht. Und Suárez? Der ist der größte Verräter. Suárez sollte den Franquismus verlängern. Er war jung, stark, intelligent, sah gut aus. Perfekt. Ein Franquismus ohne Franco. In weniger als einem Jahr verrät er die Ultrarechte und schafft eine Demokratie. Er ist der Verräter, dem man nicht mehr die Hand gibt, dank deren der Wechsel von der Diktatur zur Demokratie gelingen konnte. Er hat die falsche Vergangenheit zugunsten einer treffenderen Gegenwart verraten.

Überhöhen Sie nicht ein wenig die Bedeutung einzelner Personen und ihrer symbolischen Gesten, sich nicht vor den Putschisten auf den Boden zu werfen? Die Entscheidung, den Putsch scheitern zu lassen, wurde doch außerhalb des Parlaments getroffen, von König Juan Carlos als Nachfolger Francos im Amte des Oberbefehlshabers der Armee?

Selbstverständlich tue ich das. Für einen Historiker ist klar, dass es der König war, der den Putsch beendete, und nicht Suárez, der auf seinem Stuhl sitzen blieb. Aber ich bin kein Historiker. Diese Geste ist ein Symbol, und mein Buch ist die Spekulation über dieses Symbol.

Sie gehen hart mit der spanischen Öffentlichkeit jener Zeit ins Gericht. Statt zu protestieren, hätte sie sich nach Hause zurückgezogen und abgewartet, wie der Putsch ausging? Es gab keinen Widerstand und keine Opposition gegen den Putsch. Das Bild des absolut leeren Parlaments mit diesen drei dort sitzenden Männern ist ein Symbol für die Demokratie dieser Zeit in Spanien.

Woher diese Teilnahmslosigkeit – immerhin waren schon mehr als fünf Jahre seit dem Tod Francos vergangen?

Eine Erklärungen dafür ist die Furcht vor dem Bürgerkrieg. Als ich am 23. abends nach Hause kam, traf ich auf meine Mutter. Sie war total verängstigt. Ich wollte sofort zurück zur Universität. Sie packte mich am Arm und sagte: „Nein.“ Sie hatte den Krieg noch als Kind erlebt. 1981 war ich 18 Jahre alt, und ich lief trotzdem raus auf die Straße. Doch es war nicht wie heute auf dem Tahrir Platz in Kairo: Niemand protestierte, um sich den Militärs entgegenzustellen. Die Straßen waren total leer in ganz Spanien. Die Leute hatten zu diesem Zeitpunkt aufgehört, an die Demokratie zu glauben. 1975 nach dem Tod Francos und 1976 bei den ersten Wahlen herrschte ein großer Enthusiasmus. Fast 90 Prozent der Bevölkerung unterstützten die Demokratie. Vier Jahre später, 1980, war das Wort Enttäuschung der Schlüsselbegriff. Die Demokratie hatte nicht alle reich, schön und glücklich gemacht. Sie war nicht das Paradies auf Erden, sondern nur ein Instrument, das man gut oder schlecht nutzen konnte. Spanien erlebte eine brutale ökonomische Krise, hinzu kamen die Morde und Attentate der ETA. Man hatte den Eindruck, das Land würde auseinanderbrechen. Und im Hintergrund lauerte das Militär.

„Hatte Borges recht“, schreiben Sie, „besteht also jedes Schicksal, wie weitläufig und verschlungen es auch sein mag, in Wirklichkeit in einem einzigen Augenblick, in dem der Mensch für immer weiß, wer er ist“. Wusste Spanien durch diesen Augenblick, was es ist und künftig sein wird? Das ist zumindest meine Hypothese – keine historische, sondern eine literarische Hypothese. Für die drei Protagonisten ist dies in jedem Fall der entscheidende Augenblick, in dem sie sich selbst begriffen. Aber auch für das gesamte Land ist es der Moment, wonach es kein Zurück mehr gab.

Javier Cercas: „Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde“. Deutsch von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2011, 576 Seiten, 24,95 Euro