Was lange gärt, wird endlich Wut

UNZUFRIEDENHEIT Chalid al-Chamissi hat das richtige Buch geschrieben, um den Aufstand in Ägypten zu verstehen: „Im Taxi – Unterwegs in Kairo“

VON BEATE SEEL

Es war ein ganz gewöhnlicher Megastau auf einer vielspurigen Straße in Kairo. Dann machte es rums!, und ein Kleintransporter fuhr auf unser Taxi auf. Alle Beteiligten stiegen aus und begutachteten den Schaden, eine Delle in der Stoßstange. Man einigte sich schnell und gütlich, gemeinsam in eine Werkstatt zu fahren und einen Kostenvoranschlag machen zu lassen, denn das Taxi gehörte nicht dem Fahrer. Innerhalb von Sekunden eskalierte die Situation. Der Beifahrer des Transporters griff unseren Chauffeur an, als ihm klar wurde, dass dieser zunächst seine Fahrgäste zum Ziel bringen wollte. Der Taxifahrer, ein kräftiger junger Mann mit Familie, hatte gerade einen langen Schraubenzieher zur Hand. Es gelang meinem Begleiter, die beiden zu trennen. Andernfalls hätte der Fahrer gut und gerne wegen Körperverletzung oder Schlimmerem hinter Gittern landen können. „Es ist mir egal, ob ich ins Gefängnis komme“, sagte er im Anschluss, „da bin ich wenigstens versorgt. Mein Leben ist ein einziges Gefängnis.“ Das war im vergangenen Herbst.

Das Gefängnis, vom dem der Taxifahrer sprach, steht für die Widrigkeiten des ägyptischen Alltags derer, die nicht viel haben. Zu der Sorge um ein Auskommen für sich und die Familie kommen die ständigen Auseinandersetzungen mit Polizisten, wo man eh nur den Kürzeren ziehen kann; die kafkaeske Bürokratie mit ihren Motivationszulagen, wenn es um die Erneuerung der Lizenz geht; die Einführung von Gurten oder Taxametern, was als Schikane gilt; eine Regierung, die nur für Reiche da ist; Wahlen, von denen jeder weiß, dass ihre Ergebnisse gefälscht werden; das Chaos auf den Straßen, der Lärm, die schlechte Luft – kurz, der verdammte tägliche Überlebenskampf.

Es sind solche Geschichten, die der Autor Chalid al-Chamissi in seinem Buch „Im Taxi“ erzählt, das 2007 in Ägypten erschienen ist und nun ins Deutsche übersetzt wurde. Bei seinen Gesprächen mit den Fahrern in dem öffentlichen und doch abhörfreien Raum erschließt sich in 58 kurzen Episoden gewissermaßen das Unterfutter aus der Sicht der Underdogs für die Bewegung des 25. Januar, die schließlich zum Rücktritt von Präsident Husni Mubarak führte. Al-Chamissi diskutiert mit seinen Taxifahrern über die allgegenwärtigen Missstände, den Frust, die Ohnmacht, aber auch die Träume. Dabei zeigen seine Gesprächspartner, die häufig zu einer bildhaften Sprache greifen, auch politische Gewitztheit.

„So ist halt das Leben“, sagt ein Taxifahrer. „Damit die Großen fett werden, dürfen wir Fliegen nicht aufhören, herumzuschwirren, wie sollen sie sonst fett werden?“ Und ein anderer, der sich über den Entzug seines Führerscheins aufregt (und trotzdem weiter seiner Arbeit nachgeht): „Na ja, irgendwann werden wir wohl aufgeben und abhauen, wie alle anderen auch. Das ist es ja offenbar, was die Regierung will: dass wir gezwungen sind, zu gehen. Ich verstehe nur nicht, wen die Regierung dann ausnehmen will, wenn wir alle weg sind.“

Einige der Gespräche finden während der Parlamentswahlen 2005 statt. Wählen gehen will keiner. Ein Taxifahrer hält es schlicht für verrückt, sich einen Wahlschein zu besorgen, denn dann wäre er ja registriert und könne überwacht werden. Die damalige Angst vor dem Regime drückt sich auch in Bedenken aus, sich an einer oppositionellen Demonstration zu beteiligen. Frauen flehten die Männer an, zu Hause zu bleiben, um den Ernährer nicht zu verlieren, während die Männer sich fragten, warum gerade sie ihr Leben und ihre Familie für „irgendwas Politisches“ aufs Spiel setzen sollten. Wer in prekären Verhältnissen lebt, steht schnell vor dem Nichts. Doch der gleiche Taxifahrer sagt auch: „Die Regierung hat Angst, ihr schlottern die Knie. Ein Windstoß, und sie fällt um.“

Wir wissen nun nicht, ob all diese Taxifahrer, denen Chalid al-Chamissi eine Stimme gibt, auf dem Tahrirplatz waren, aber sicher haben sie die Proteste gegen Mubarak elektrisiert verfolgt. Nach dem erfolgreichen tunesischen Beispiel verschwand mit der Angst das Gefühl der Ohnmacht, und die Lügen mochte auch niemand mehr glauben. Der ägyptische Windstoß dauerte 18 Tage. Dann fiel die Regierung um.

Chalid al-Chamissi: „Im Taxi – Unterwegs in Kairo“. Aus dem Arabischen von Kristina Bergmann. Lenos Verlag, Basel 2011, 187 Seiten, 19,90 Euro