Kirche ja, Predigt nein

STUDIE Die Fachhochschule Hannover befragte Kirchenbesucher, warum sie in Gotteshäuser gehen. Denn die Zahl der Menschen, die eine Kirche besuchen ist siebenmal höher als die der Gottesdienstbesucher

„Wenn wir unterwegs sind, schauen wir uns überall Kirchen an“

DIETER MICHAEL, ARZT

Sechs Millionen Menschen besuchen jedes Jahr den Kölner Dom, bei Touristen das beliebteste Ziel in Deutschland. Doch auch unbekanntere sakrale Gebäude erfreuen sich großer Beliebtheit – die Zahl der Menschen, die einfach mal so in eine Kirche gehen, ist siebenmal so hoch wie die der Gottesdienstteilnehmer.

„Wenn wir unterwegs sind, schauen wir uns überall Kirchen an, nach Möglichkeit auch Friedhöfe“, sagt Dieter Michael, 76-jähriger Arzt aus Blankenburg am Harz. Er hat gerade mit seiner Frau Christa die Stadtkirche Celle betreten, die täglich bis zu 1.000 Besucher zählt. Die Michaels wundern sich über den Prunk in dem 700 Jahre alten evangelischen Gotteshaus und bleiben vor dem Altar mit seinen wertvollen Holzschnitzereien stehen. Dann wandert der Blick hoch zu den aufwändigen Stuckarbeiten und der mächtigen Orgel. Gut 20 Minuten verbringen Christa und Dieter Michael in der Barockkirche – aus Interesse an Kunst und Musik und weniger an Religion, wie sie betonen.

Was interessiert Menschen an Kirchen? Wer geht außerhalb des Gottesdienstes in eine Kirche und was macht er dort? Fragen, die Ralf Hoburg beschäftigen. Der Theologieprofessor an der Fachhochschule Hannover ließ 325 Besucher in 15 evangelischen Kirchen zwischen Cuxhaven und Goslar befragen, die in der Woche zu bestimmten Zeiten geöffnet sind. Manche Ergebnisse haben Hoburg überrascht. „Es sind nicht, wie viele wohl vermuten, vor allem die alten Mütterchen, die eine Kirche aufsuchen. Ein Drittel aller Besucher sind unter 30, nur 14 Prozent über 60.“

Überwiegend kommen Touristen, für die der Besuch einer Kirche bei der Erkundung einer fremden Stadt dazugehört. Für die meisten sind Kirchen in erster Linie kulturhistorisch bedeutsame Gebäude. Nur jeder Fünfte bezeichnet sie als Denkmäler des Glaubens und nennt als Motiv für die Besichtigung die eigene Frömmigkeit. Die Mehrheit fühlt sich der Kirche verbunden, knapp ein Drittel bezeichnet sich als religiös ohne Kontakt zu einer Gemeinde.

Was schauen sich die Kirchenbesucher an? Nach Hoburgs Befragung vor allem den Altar, gefolgt vom Kreuz, der Orgel, den Engeln, den Kirchenfenstern und der Kanzel. Die meisten bleiben zwischen 15 Minuten und einer halben Stunde. Wenn sie die Räumlichkeiten wieder verlassen haben, sagt die Mehrheit, dass die Stille ihnen sehr gut getan habe. Jeder Dritte fühlt sich von der Architektur und dem Kunstreichtum sehr angesprochen. 13 Prozent sind durch die besondere Atmosphäre ins Nachdenken gekommen, zwei Prozent ist die ganze Umgebung eher fremd geblieben.

Alles keine repräsentativen Zahlen, aber wichtige Hinweise für Hoburg: „Katholische Kirchen sind per se geöffnet, im Gegensatz zu vielen evangelischen Kirchen. Sie sollte ihre Gebäude stärker als geistiges Kapital einsetzen, denn sie kann durch die Öffnung von mehr Gotteshäusern auch kirchenferne Menschen ansprechen.“ In einigen Kirchen müssen Besucher außerhalb des Gottesdienstes inzwischen Eintritt zahlen, so wie in der Lübecker Marienkirche oder der St.-Nikolai-Kirche in Stralsund. In der Stadtkirche Celle setzt man auf Spenden der Besucher zum Erhalt des Gebäudes.

Die Rentnerin Dorothea Bodi hofft, dass das so bleibt. Sie steht in der Stadtkirche Celle für die Gäste als Ansprechpartnerin bereit: „Es gibt nicht wenige Menschen, die hierher kommen, weil sie einen Gesprächspartner für ihre persönlichen Probleme suchen.“ JOACHIM GÖRES