Erste Wahl: Gesamtschule

Die 217 Gesamtschulen in NRW boomen – obwohl sie von der Landesregierung abgelehnt werden: Mehr als 16.000 Kinder konnten nicht für das nächste Schuljahr angemeldet werden

VON MIRIAM BUNJES

Im westfälischen Emsdetten setzt sich selbst die CDU für die Gründung einer Gesamtschule ein. Die Stadtverwaltung soll die neuesten Anmeldezahlen analysieren und eine Prognose erstellen, fordert die Mehrheitsfraktion vorsichtig. Deren Ergebnis steht jedoch schon fest. Auch im tiefschwarzen Münsterland wollen die Eltern Gesamtschulen für ihre Kinder – lieber jedenfalls als eine Hauptschule. Die benachbarten Gesamtschulen Saerbeck und Nordwalde im Kreis Steinfurt sind voll, sie mussten fast 400 Schüler ablehnen. Viele davon aus Emsdetten, dort gibt es keine Gesamtschule. Bislang. „Wir müssen uns dieser Diskussion stellen, weil die Eltern für ihre Kinder nach der Gesamtschule bessere Zukunftsaussichten sehen“, sagt Christoph Dehne von der CDU-Ratsfraktion.

Überall im Land boomen die Gesamtschulen: Mehr als 16.000 angehende Fünftklässler mussten die 217 NRW-Gesamtschulen für das kommende Schuljahr abweisen, schon im Vorjahr gab es 14.000 Anmeldungen zu viel. Eine „Abstimmung mit den Füßen“ nennt das Anette Plümpe, Vorsitzende des Landeselternrats an den NRW Gesamtschulen. „Die Eltern wollen eine Schule, an der ihre Kinder alle Abschlüsse machen können.“ Plümpe und ihre VereinskollegInnen raten allen abgelehnten Eltern, bei der zuständigen Kommune Widerspruch einzulegen – oder am besten gleich eine Elterninitiative zu gründen, die für eine Gesamtschulgründung kämpft. „Die Landesregierung ist gegen Gesamtschulen“, sagt Plümpe. „Aber die Basis bröckelt.“

Und die Basis entscheidet. Über Schulgründungen bestimmen die Schulträger, das sind in NRW die Kommunen. „Die gehen eher auf die Wünsche der Menschen ein“, sagt Plümpe. „Egal, welche politische Farbe sie haben.“ Das hofft auch Reiner Reintgen in Bonn. Er und seine Frau haben eine Elterninitiative gegründet, weil ihr Sohn wie 700 Bonner Viertklässler keinen Platz an einer der drei Gesamtschulen fand – die allesamt auf Druck der Eltern entstanden. 120 Unterschriften für eine vierte Gesamtschule hat er schon gesammelt. „Es kann nicht sein, dass über die schulische Bildung unserer Kinder per Losverfahren entschieden wird“, sagt Reintgen. Auf eine Hauptschule will er seinen Sohn, einen Legastheniker, nicht schicken. „Gerade für lernbehinderte Kinder sind Gesamtschulen am besten.“

Im Schulministerium will niemand von einem Boom sprechen. „Es handelt sich um einen geburtenstarken Jahrgang“, sagt Ministeriumssprecher Andrej Priboschek. Außerdem seien Ganztagsschulplätze begehrt. „Wir bauen ja immer mehr Hauptschulen um, dann nimmt der Run auf die Gesamtschule wahrscheinlich auch ab.“ Beim Regierungswechsel 2005 hatten Gesamtschulen ihre Abschaffung befürchtet. Doch Schulministerin Barbara Sommer (CDU) duldete die von der SPD forcierte Schulart. Sie fördert sie aber nicht.

„Wir haben weniger Vertretungsstunden als die Gymnasien“, sagt Werner Kerski, Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule NRW und Leiter einer Gesamtschule in Hagen. Den Anmeldeboom diesen Jahres erklärt er mit dem Turbo-Abitur an den Gymnasien. „Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder das Abi nicht in acht Jahren schaffen.“ An den Gesamtschulen in NRW werden die Abiturprüfungen nach wie vor erst nach dem 13. Schuljahr absolviert. Angestiegen sind die Gesamtschulanmeldungen vor allem auf dem Land – wegen der fehlenden Konkurrenz, glaubt Kerski. Dort melden sich auch mehr SchülerInnen mit einer gymnasialen Empfehlung ihrer Grundschule an. „In städtischen Gebieten wie dem Ruhrgebiet graben die vielen konkurrierenden Gymnasium natürlich gute Schüler ab“, sagt Kerski. „Aber auch dieser Trend hat wegen des Turbo-Abis abgenommen.“