„Manchmal ist es ein winziger Punkt“

HEILUNG Jede dritte Erkrankung gilt als selten, oft irren Betroffene von Arzt zu Arzt. Theda Wessel versucht zu helfen

■ Die Fachärztin für Kinderheilkunde und Hormonstörungen im Kindesalter, 38, koordiniert das Berliner Centrum für seltene Erkrankungen an der Charité (www.bcse.charite.de, Telefon: 0 30-4 50 56 67 66). Weitere Zentren gibt es in Tübingen, Freiburg und Bonn. Ab 15. April kommt Heidelberg hinzu.

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Wessel, Sie koordinieren das neue Zentrum für seltene Krankheiten. Was ist es?

Theda Wessel: Eine Anlaufstelle für Menschen mit Erkrankungen, über die man wenig weiß. Jetzt in der Startphase sind nur die kinderheilkundlichen Gebiete vertreten, es soll aber bald auch für Erwachsene zugänglich sein. Uns war wichtig, nicht nur ein Zentrum einzurichten, wo man eine Hotline anruft, sondern wo ein direkter ärztlicher Kontakt gegeben ist. Häufig ist es doch so, dass Leute eben gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, wenn es gar keine Diagnose gibt. Dann ist es hilfreich, sich nicht nur irgendwie durchs Internet hangeln zu müssen, sondern die Symptome mit jemandem klären zu können, der selbst Arzt ist.

Spielt das Internet bei der Diagnosefindung eine Rolle?

Ja, sehr.

Ist das Netz eine Quelle für Falschinformationen?

Sowohl als auch. Manchmal kommen Eltern durchs Surfen im Netz der Diagnose auf die Spur und fangen früh an nachzuhaken: Könnte es nicht auch das sein? Dann gibt es manchmal auch irreführende Fehlinformationen im Netz. Es wird eine Aufgabe sein, im europäischen Rahmen ein wirklich gutes Informationsportal zu seltenen Erkrankungen zu erstellen.

Wann ist eine Krankheit selten?

Wenn sie weniger als eine Person von zweitausend betrifft. Das ist natürlich eine willkürliche Definition, aber darauf hat man sich in Europa geeinigt. Insgesamt sind mehrere Millionen Menschen in Deutschland betroffen, einfach weil es so unglaublich viele seltene Erkrankungen gibt.

Wie viel ist „unglaublich viel“?

Etwa ein Drittel der bekannten Krankheiten sind selten.

Was ist eine seltene Krankheit?

Das können ganz unterschiedliche Erkrankungen sein. Oft haben sie eine genetische Ursache. Sie können ein Organ oder viele Organsysteme betreffen.

Geben Sie bitte ein Beispiel.

Mein Spezialgebiet sind Hormonerkrankungen. Es gibt Kinder, wo die Bauchspeicheldrüse zu viel Insulin produziert. Bei Diabetes ist es zu wenig und bei Hyperinsulinismus zu viel. Die Säuglinge sind ständig unterzuckert, sind zittrig, haben Krampfanfälle. Die Krankheit ist hochgradig gefährlich für das Gehirn und die gesamte Entwicklung. Manchmal ist nur ein winziger Punkt der Bauchspeicheldrüse betroffen, den man eventuell herausoperieren kann. Damit man das rauskriegt, muss ein großes Team an Leuten sehr gut zusammenarbeiten. Man braucht Chirurgen, Radiologen, Hormonspezialisten. Da die Erkrankung sehr selten ist, kann das nur in wenigen Kliniken angeboten werden.

Wie ist das Prozedere, wenn Betroffene Sie als Ansprechpartnerin gefunden haben?

Wenn es schon eine Diagnose gibt, kann das entweder bei uns behandelt werden, oder ich versuche die Patienten anhand der Symptome an die geeigneten Ärzte weiterzuleiten.

Sie sind demnach so etwas wie ein Tor, durch das man geht?

Genau.

Warum weiß man über seltene Krankheiten so wenig?

Weil der menschliche Organismus unbeschreiblich kompliziert ist und die Forschung noch immer nur an der Oberfläche kratzt. Hinzu kommt, dass die meisten Gelder in die Erforschung von häufigen Krankheiten gesteckt werden.

Warum dann jetzt dieses Interesse an seltenen Krankheiten?

Ich denke, der Leidensdruck sowohl bei den Patienten als auch auf medizinischer Seite war zu groß. Es ist ja auch für Ärzte frustrierend, wenn man nicht weiterhelfen kann. Außerdem fordert eine europäische Vorgabe, dass in der Medizin seltene Krankheiten stärkere Beachtung finden.

Ist es so, dass die Pharmaindustrie an häufig vorkommenden Krankheiten nicht mehr so viel Profit macht und deshalb dieses Interesse an seltenen Krankheiten auch vorgegeben ist von der Pharmaindustrie?

Da wäre ich zurückhaltend. Sicher gibt es vereinzelt seltene Erkrankungen, wo ein Mittel gefunden wird, an dem die Pharmaindustrie gut verdient. Bei der Mehrzahl ist aber gar nicht abzusehen, wann sich das für sie rechnet.

Wie gehen Sie vor, wenn jemand sich mit einem kranken Kind an Sie wendet?

Zuerst muss man die Ursache rausfinden. Gut ist, wenn man etwa weiß, welcher genetische Defekt dem Ganzen zugrunde liegt. Dann kommt der zweite Schritt: Wie sind die Auswirkungen genau? Dass man wirklich weiß: Aha, zehn Prozent der Patienten entwickeln dann noch, sagen wir, ein Nierenkarzinom. Oder drei Prozent haben Hörprobleme. Es erfordert viel Zeit und Energie, das rauszufinden. Der dritte Schritt: Wie kann man therapeutisch eingreifen? Und dann ist der letzte Schritt die sogenannte Versorgungsforschung. Was brauchen die Patienten?

Stellen Sie Regionalkarten her? Versuchen Sie rauszukriegen, wo bestimmte Krankheiten besonders häufig auftreten?

Epidemiologie spielt auch eine Rolle. Nur so kann man überhaupt erfassen, wie oft eine Erkrankung wirklich vorkommt. Manchmal hilft einem die regionale Verbreitung, um zu wissen, welche Ursachen infrage kommen. Bei manchen genetischen Erkrankungen, besonders in Ländern, wo viel innerhalb von Familien oder innerhalb von Dörfern geheiratet wird, können bestimmte Krankheiten häufiger vorkommen. Das hilft dann manchmal auch herauszufinden, an welchem Gen es liegt.

Seltene Krankheiten seien vor allem genetisch bedingt, wird oft gesagt.

Ja, häufig liegt darin wirklich die Ursache.

Bei „genetisch bedingt“ schwingt oft eine Schuldzuschreibung den Eltern gegenüber mit.

Bei den genetischen Beratungen betonen wir immer, dass niemand Schuld hat. Wenn man jetzt auf der Straße gucken würde, würde man bei jedem Fehler im genetischen Programm finden, wirklich bei jedem.

Genveränderungen geschehen auch durch Umwelteinflüsse. Ganz aktuell: Durch radioaktive Strahlung soll es zu Genveränderungen kommen. Spielen solche Fragen bei der Ursachenforschung in Ihrem Zentrum eine Rolle?

Direkt nicht, sie sind aber immer denkbar. Es gab ja große Untersuchungen nach Tschernobyl, wer wann wie erkrankte. Wobei da die Daten sicherlich nicht komplett sind, weil das oft auch ein Politikum ist. Aber klar ist: Strahlung kann zu enormen Schäden führen. Und es schädigt nicht nur die, die aktuell der Strahlung ausgesetzt sind, sondern auch die nachfolgenden Generationen. Was jetzt in Japan passiert, das hat natürlich eine Dimension, die man sich kaum vorstellen kann.