Ausflüge in die Vergangenheit

FILMFESTSPIELE Das 67. Festival von Locarno widmet sich in seiner Retrospektive dem italienischen Titanus-Studio und seiner filmischen Aufarbeitung des Faschismus. Der Wettbewerb bringt dann ein barockes Italien ins Bild

Das Dorf ist organisch wie ein Baum, und die Dauer des Films legt seine Wurzeln frei

von DOMINIK KAMALZADEH

Für Ausflüge in die Vergangenheit bieten sich auf dem 67. Filmfestival von Locarno besonders viele Gelegenheiten. Damit ist weniger die Ehrung von Roman Polanski gemeint, anlässlich deren sich die Christdemokraten im Tessin etwas zu durchschaubar als Tugendwächter profilieren wollen. Die Einladung des polnischen Regisseurs dürfe nicht toleriert werden, sagen sie, habe sich dieser doch „kleinmütig dem Gesetz“ entzogen. Festivalpräsident Marco Solari konterte prompt, Polanski tauge nicht als Symbolfigur für das Problem des Kindesmissbrauchs. Ob er freilich den Autorenfilm adäquat symbolisiert, bleibt dahingestellt.

Es lohnt sich, den Blick von solchen Debatten abzuwenden und auf die Filme selbst zu richten. In der diesjährigen Retrospektive, die sich mit dem langlebigen italienischen Titanus-Studio beschäftigt, war etwa „Giorni di gloria“ zu sehen, ein Kollektivfilm aus dem Jahr 1944, der sich mit dem italienischen Widerstand von 1943 bis zur Befreiung beschäftigt. Obwohl ein „Gebrauchsfilm“, haben daran Regisseure wie Guiseppe de Santis oder Luchino Visconti mitgewirkt. Von Letzterem stammt ein Stück, das sich mit dem Prozess gegen den Polizeichef Roms, Pietro Caruso, befasst, der in den Ardeatinischen Höhlen ein Massaker an 330 Partisanen veranlasst hat. Visconti filmte mit bis zu sieben Kameras im Gerichtssaal, hält die – aus heutiger Sicht – fast schon theatralen Posen der Ankläger und Verteidiger fest. Die Leichen aus dem Tunnelsystem werden in fast schon unziemlichen Großaufnahmen gezeigt, gegenmontiert zum Mündungsfeuer der Faschisten.

Wo „Giorni di gloria“ keine Missverständnisse über seine Intentionen aufkommen lässt, bevorzugt Lav Diaz in seinem fast sechs Stunden langen Film „From What is Before“ einen indirekten Zugang, um die Auswirkungen eines Gewaltregimes zu vergegenwärtigen. Der Schwarzweißfilm beginnt im Jahr 1970 und endet im Herbst 1972, zu jenem Zeitpunkt, als General Marcos auf den Philippinen das Kriegsrecht verhängt hat. Allerdings bleibt dieser politische Hintergrund bei Diaz zunächst verdeckt. Schauplatz des Films ist ein abgeschiedenes Barrio in den Sümpfen, ein Dorf, das immer noch ohne Strom auskommt und zu dem keine asphaltierte Straße führt.

Dort lebt eine Handvoll Figuren einen Alltag der Beschwerlichkeiten und wirtschaftlicher Not: eine Frau, die ihre schwer behinderte Schwester pflegt; ein Wildhüter, der einen fremden Jungen großgezogen hat; ein Dichter, der hierher zurückgekehrt ist, oder eine aufdringliche Händlerin, die üble Gerüchte in Umlauf bringt.

Diaz faltet nun Lebenszusammenhänge auf: Das Dorf ist organisch wie ein Baum, und die Dauer des Films legt seine Wurzeln frei. Doch seltsame Dinge geschehen: Rinder werden erschlagen im Wald gefunden, ein Toter liegt auf einer Kreuzung. Die Angst und Gewalt ist in „From What is Before“ schon da, bevor mit dem Militär die Willkür des Staates auftritt und eine Ausgangssperre verhängt. Wie Lav Diaz an einem Außenposten die Verhärtungen des Landes unter Marcos anschaulich macht, ist meisterhaft. Er muss keine Übergriffe zeigen; die fragilen Strukturen des Dorfs zerbrechen von selbst, die Figuren werden zwischen den Fronten aufgerieben. Diaz’ Anliegen ist nicht, an ein Regime zu erinnern, sondern an die Kultur, die dieses zerstört.

Die Frage danach, wo man seinen Platz im Leben findet, ist auch in Eugène Greens „La Sapienza“, einem weiteren bemerkenswerten Wettbewerbsfilm, wichtig. Der in lakonisch-starren Szenen arrangierte Film erzählt von einem Architekten mit Vorliebe für Funktionsbauten und dessen Frau, einer Gruppentherapeutin, die sich nicht mehr viel zu sagen haben. Auf einer Reise in den Tessin begegnen sie einem jugendlichen Geschwisterpaar. Zufall oder Schicksal? Ein Zusammentreffen jedenfalls, von dem alle vier auf überraschende Weise profitieren.

„La Sapienza“ trägt die Auseinandersetzung zwischen Jugend und Alter vor allem über Architektur und Sprache aus. Der ausgebrannte Architekt bricht mit dem jungen Mann, der auch einmal „Räume schaffen will“, auf eine Reise nach Italien auf. Dort besichtigen sie Bauten des Barockarchitekten Francesco Borromini, die Kameramann Raphael O’Byrne wie Himmelskörper ins Bild rückt. „La Sapienza“ ist ein Film über den Idealismus der Vergangenheit, dem man sich in der Gegenwart neu erschließen muss. Green, ein Barockexperte, verkörpert diese Liebe zum Alten selbst und öffnet als Regisseur Türen, durch die sich (nicht nur für die Figuren) überraschende Betrachtungswinkel ergeben.