Von Schwaben und Serben

Ethnie ist eine reaktionäre Idee. Ein neuer Sammelband zu Minoritäten erklärt, warum

Halten Sie Sachsen und Westfalen für unterschiedliche Volksstämme? Schwaben und Baden für ethnische Minderheiten? Absurde Fragen? Aus heutiger Sicht vielleicht, aber bis weit ins letzte Jahrhundert wäre die gängige Antwort ein klares Ja gewesen. Der Sammelband „Minderheitenkonflikte in Europa“ nimmt sich nun des aktuellen Problems von Realität und Konstruktion ethnischer Minderheiten an.

Einleitend beschreibt der Politologe Samuel Salzborn die historische Entwicklung von Minderheitenkonflikten und die seit dem 19. Jahrhundert andauernden Bemühungen, ein so genanntes Volksgruppenrecht zu etablieren, mit dem Ziel der Gewährung von politischen Sonderrechten. Für Salzborn handelt es sich dabei allerdings um Bestrebungen, die ein Rechtssystem auf völkischer Grundlage etablieren wollen. Denn obwohl Gruppen- und Individualrechte auf den ersten Blick jeweils darauf zielen, Menschen vor Diskriminierung zu schützen, liegen ihnen zwei völlig unterschiedliche Konzepte zugrunde. Das individuelle Menschenrecht hat „die Gleichheit aller Menschen“, das Volksgruppenrecht dagegen „ihre Ungleichheit zur Prämisse und zugleich zum Ziel“.

Legitimiert wird diese Forderung unter Rekurs auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, was letztlich immer darauf hinausläuft, eine völkische anstelle einer bürgerlichen Identität zu konstruieren. Da die Forderung nach Selbstbestimmung aber mit klassischen Freiheitskampfmythen der Linken korrespondiert, ist die Forderung nach einer Verankerung von kollektiven Minderheitenrechten im Internationalen Recht keineswegs eine Domäne der politischen Rechten: Auch Antje Vollmer und Teile der Grünen treten seit Jahren für die Schaffung eines internationalen Gerichtshofs für Minderheitenrechte ein.

Das Problem ist nun, dass eine solche Form von Minderheitenschutz genau diejenigen ethnischen Identitäten konstruiert und verstärkt, die sie hinterher unter Schutz stellen möchte.

Die Fallbeispiele im Band zeigen das Konfliktpotential dieser ethnisch aufgeladenen Identitäten anhand verschiedener nationaler Minderheiten und der jeweiligen Konfliktsituation: Behandelt werden sowohl „klassische“ Konfliktgebiete wie das Baskenland, Korsika, Nordirland, Südtirol und das Kosovo, als auch die aktuelle und historische Minderheitenpolitik in Österreich, Deutschland, Polen und Ungarn. Hinzu kommt auch ein historisch orientierter Beitrag über die Geschichte und Gegenwart der Sudetendeutschen.

Gerade an Letzteren lässt sich aufzeigen, wie eine Volksgruppe gewissermaßen „erfunden“ wird, um politische Ziele durchzusetzen, nämlich die „Befreiung von der tschechischen Fremdherrschaft“ nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die Historikerin Eva Hahn und der Oldenburger Geschichtsprofessor Hans Henning Hahn weisen dies überzeugend nach und machen auf einen bemerkenswerten Umstand aufmerksam: Während die Sudetendeutschen damals nur eine radikale Minderheit unter den deutschsprachigen BürgerInnen der Tschechischen Republik darstellten, werden sie heute weitgehend mit diesen gleichgesetzt. Ein beeindruckendes Beispiel der „erfolgreichen“ Ethnisierung eines Minderheitenkonflikts.

Trotz einzelner Schwächen in der Darstellung wird bei der Lektüre sehr deutlich, dass durch eine Ethnisierung von Konflikten soziale, kulturelle und religiöse Probleme auf eine Ebene des Vorpolitischen verschoben und ökonomische oder politische Gründe zugunsten einer essenzialistischen Zuspitzung ausgeblendet werden. Dabei wird eine Gruppe, beispielsweise die Serben, als unauflösbar verschieden von der anderen, beispielsweise der der Kosovo-Albaner, konstruiert. Anschließend lässt sich die Konfliktsituation angeblich nur noch durch Separierung, also der „freiwilligen“ Umsiedlung, der Vertreibung oder Vernichtung der beiden Gruppen lösen.

Hinzu kommt, dass es in den meisten Ländern mittlerweile „neue“ Minderheiten gibt, die im Zuge von Dekolonisation und Arbeitsmigration zugewandert sind. Konkret heißt das: Was nützt es, wenn eine kroatische Bosnierin zwar Volksgruppenschutz genießt, gleichzeitig aber als Frau diskriminiert wird? Was bringt ein vererbbares Sonderrecht für bestimmte Gruppen in bestimmten Regionen, wenn es angesichts globaler Migration doch darum gehen muss, dass alle Menschen, die an einem Ort geboren werden oder längere Zeit dort leben, die gleichen Rechte genießen?

Erinnern wir uns: Es gibt es in der Geschichte reihenweise Beispiele für eine geglückte Integration von vermeintlich zutiefst fremdartigen Gruppen: Sogar Baden und Württemberg haben es geschafft, dass ihre Bewohner Konflikte im Stuttgarter Landtag austragen, und zwar aufgrund ihrer Partei- und nicht ihrer vermeintlichen Volkszugehörigkeit.

ANDREJ REISIN

Samuel Salzborn (Hg.): „Minderheitenkonflikte in Europa. Fallbeispiele und Lösungsansätze“. Studienverlag 2006, 261 S., 29,90 €