Das Geheimnis der Pineta

Von den italienischen Krimiautoren Fruttero & Lucentini inspiriert, rätselt unser Autor über die reale Kulisse eines Tatorts. Im akribischen Stil des Ermittlers forscht er an der toskanischen Küste nach dem verborgenen Pinienhain. Eine Spurensuche

RÜDIGER KIND

„In den Drehständern für Ansichtskarten, die im Sommer vor den Schreibwaren-, Tabak- und Souvenirläden des nahen Städtchens aufgestellt werden, gibt es nur eine einzige Karte, auf der die „Pineta della Gualdana“ („Pinienhain der Gualdana“) zu sehen ist … unter dieser glatt wirkenden Schicht von lückenlos ineinandergreifenden Baumkronen liegen die Dinge ein wenig anders.“

So beginnt „Das Geheimnis der Pineta“ des Turiner Autorenduos Carlo Fruttero & Franco Lucentini. 1991 erschien der Kriminalroman, der an einem winterlich verlassenen Strand an der toskanischen Küste spielt, in einem Pinienwald, in dem versteckt die Sommerhäuser wohlhabender Norditaliener liegen. Das Gebiet ist von einem Maschendrahtzaun umgeben und bewacht – die Pineta della Gualdana ist Privatbesitz, Eigentum einer Wohnungseigentümergemeinschaft.

Die meisten der 153 flach gebauten Villen sind nur während der Sommermonate bewohnt. Einige Ausnahmen gibt es aber, Dauerbewohner, für die die Pineta nicht der vorübergehend sonnige Ort ist, an dem man die Sommerferien verbringt, sondern ein Refugium, ein Versteck außerhalb der mondänen Welt. Aus diesem abgeschotteten Bezirk gehen kurz vor Weihnachten eine Reihe von Vermisstenanzeigen in der örtlichen Kommandantur der Carabinieri ein. Die Ermittlungen führen Inspektor Maresciallo Butti immer wieder in die winterliche Pineta.

Das Markenzeichen von Carlo Fruttero und Franco Lucentini – kurz F & L oder „die Firma“ genannt – waren die stets gemeinsam verfassten Kriminalromane, durch die sie auch in Deutschland bekannt wurden. In „Das Geheimnis der Pineta“ – eine ihrer erfolgreichsten Geschichten – lassen Fruttero & Lucentini den Leser im Ungewissen über den genauen Schauplatz der Handlung. Die Pineta della Gualdana ist eine offenbar erfundene Bezeichnung und der Name des nahen Städtchens wird nicht genannt. Andererseits gibt es im Roman eine Vielzahl verstreuter Hinweise, die auf einen realen Ort hindeuten.

Die Lage an der Küste der südlichen Toskana und die Nähe zu Grosseto wird etwa benannt – sie sind die Koordinaten für unsere Spurensuche. Der Dialog, in dem zwei Romanfiguren, der Dauerbewohner Daniele Monforti, ein Depressiver auf dem Wege der Gesundung, und seine Schwester Sandra das nahe Städtchen ganz unterschiedlich beurteilen, gibt deutliche Hinweise auf das reale Vorbild des Schauplatzes.

„Sandra: … herrlich, die natürliche Anmut der Armeleute-Architektur des letzten und vorletzten Jahrhunderts, die ein harmonisches Gewirr von Gassen und Gäßchen, Plätzen und Plätzchen geschaffen hat, belebt durch die bunten Auslagen der Obststände, Schmuckverkäufer, Trödler und Fischhändler. Daniele: … und dann das übliche Ex-Fischerdorf, renoviert und neu angemalt, überall verunstaltet durch Verchromtes, Verglastes, Aluminiumprofile und Plastikvorhänge. Sandra: Das Ganze zu Füßen eines Hügels, an dessen steile Hänge sich gleich einer Krippe der mittelalterliche Borgo schmiegt, eingeschlossen in seine noch fast intakten Mauern und beherrscht von der Rocca, einer stolzen, zinnengekrönten Burg.“

Spätestens hier wird klar, dass es sich bei dem „nahen Städtchen“ um Castiglione della Pescaia handeln muss. Der erste Beleg: Die malerische Stadtansicht mit der charakteristischen Rocca hebt den beliebten Urlaubsort vorteilhaft aus der Masse gesichtsloser Hotelzusammenballungen heraus. Zweitens hat man von Castiglione aus bei klarem Wetter den im Roman beschriebenen Rundblick: „Durch das voll ausgezogene Fernrohr hatte er eine nach der anderen Inseln des Toskanischen Archipels ins Visier genommen: Elba, Montecristo, Giglio, Capraia und … Korsika.“ Drittens, mit den Worten F & Ls: „Da ist natürlich der kleine Hafen mit seinem Leuchtturm, mit einem halben Dutzend Fischerkähnen und einer Unzahl von Segelyachten in allen Formen und Größen.“ Und viertens, der eindeutigste Hinweis: Castiglione della Pescaia ist von großen Pinienwäldern umgeben.

Wo aber soll das Vorbild der Pineta della Gualdana genau liegen? Nach Norden, Richtung Follonica, gibt es einen großen Campingplatz in der Pineta, außerdem aber auch eine Anlage der gehobenen Klasse, die in Frage kommt: Roccamare. Schon die Einfahrt gleicht der im Roman beschriebenen aufs Haar: „ … nach dem leichten Anstieg versperren zwei rot-weiße Schranken den Weg, und daneben steht ein unscheinbares flaches Gebäude, von dem aus zwei uniformierte Wächter den Zugang zur Pineta kontrollieren. Einer von ihnen wedelt leicht mit der Hand, den Zeigefinger zum Verbot erhoben.“ Kein Zweifel, hier haben wir es mit dem Vorbild der Pineta della Gualdana zu tun.

Versuchen wir also, die Pineta di Roccamare näher zu inspizieren. Der freundliche Wächter erklärt aber kategorisch, dass er ortsfremden Personen keinen Zutritt gewähren könne – die Bewohner möchten nicht gestört werden. Während des Gesprächs kommt es dann zu einer Szene, die wirkt, als würde hier die Beschreibung im Roman nachgestellt: Dort sieht ein Tourist, „wie sich die Einfahrtsschranke für den grauen Lieferwagen des Elektrikers Ciacci hebt“. Und tatsächlich nähert sich jetzt ein weißer Lieferwagen und die Schranke wird geöffnet.

Roccamare ist nicht so exklusiv wie andere VIP-Ressorts in der Umgebung, bereitet dem um seine Privatsphäre bemühten Gast jedoch die nötige Abgeschlossenheit und Ruhe. Künstler, Musiker und Schriftsteller schätzen deshalb die Abgeschiedenheit der Anlage. Alessandro Bellucci, alteingesessener Gastronom und Kenner der Castiglioneser Verhältnisse, bestätigt unsere Vermutung: Fruttero & Lucentini verbrachten lange Jahre die Sommermonate in der Pineta di Roccamare. Hier entwickelten die beiden Autoren ihre Romanideen.

F & L lösen den Fall um das Geheimnis der Pineta auf unkonventionelle Weise. Das Vergnügen des Lesers liegt nicht nur in der Auflösung des Rätsels, sondern auch in der Art und Weise, wie sie herbeigeführt wird. Wie die Stücke des 500-teiligen „blinden“ Puzzles ohne Bildvorlage, das Signor Monforti zu Weihnachten geschenkt bekommt, breiten F & L die Figuren, Motive und Szenen der gelangweilten Bewohner der Pineta vor dem Leser aus und fügen die Einzelteile nach und nach zusammen. Es entsteht ein satirisches Gemälde des norditalienischen Bürgertums, ein Spiel mit ironischen Literaturzitaten, beobachtet aus dem Wissen, dass sich auch hinter dem scheinbar ruhigen Leben einer saturierten Oberschicht wahres Unglück verbergen kann.

Bei einem letzten Rundgang durch Castiglione kommen wir noch einmal an der im Roman beschriebenen Carabinieri-Kaserne vorbei. Und wie auf Bestellung öffnet sich das Garagentor und „der blaue Fiat der Carabinieri“ fährt heraus. Ob Maresciallo Butti am Steuer sitzt, unterwegs zu seinem nächsten Fall?