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SehhilfenMeine Augen

Ich verstand „Hirnhautverstimmung“

Dass die Kamera nun kaputt war, merkte ich, als ich zwischen AGB und Zossenerstraße ein schönes Motiv sah: ein Mann saß auf einer Bank und rauchte. Die Bank war eingerahmt von städtischen Mülleimern, neben denen zwei rote Supermarkttaschen standen. Die Sonne schien, es gab auch Schatten. Ein schönes Bild.

Vergeblich brummte der Motor. Die Linse öffnete sich nicht mehr. Seit Jahren hatte ich auch mit dem Gedanken gespielt, mir eine Brille zuzulegen. Ich fuhr durch die Gegend, wo waren die ganzen Optiker? Zögernd stand ich vor Schaufenstern und alles sah teuer aus. Am Kottbusser Damm gab es ein Geschäft, dessen Namen ich aus der Fernsehreklame kannte. Drei Frauen in den 40ern schienen den Laden zu schmeißen. Passende Brillen unterstrichen ihre Kompetenz.

In einem Nebenraum wartete ich bei den Apparaten. Eine blonde Frau mit roten Bäckchen, dezent geschminkt und ausstaffiert, widmete sich meinen Augen. Vergleichsweise kam ich mir vor wie ein Penner. Vielleicht hätte ich zuvor auch zum Haareschneiden gehen sollen. Buchstabenreihen verschwammen vor meinen Augen. Das Fachvokabular der Sehschadensfeststellung war milchig, deutlich, kleiner, größer. Manchmal freute ich mich, wenn ich Buchstaben richtig geraten hatte, wurde gelobt, bekam aber keinen Bonbon.

Die Fachverkäuferin erklärte, ich hätte eine Hornhautverkrümmung. Erst verstand ich „Hirnhautverstimmung“ – das hätte auch meine innerpsychischen Ungereimtheiten erklärt. Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung von Hornhautverkrümmung und freute mich über die Diagnose. Die neue Brille würde so sein wie digitales Fernsehen.

Ich entschied mich schnell für ein etwas nerdiges Modell, mit allem angeratenen Drum und Dran außer Scheibenwischer. Alles war ganz schön teuer. Die zweite Brille zum Weitergucken würde ich mir im Sommer leisten. DETLEF KUHLBRODT

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