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die jazzkolumneIn Ornettes Welt

Der Freejazz-Revolutionär und Altsaxofonist Ornette Coleman hat in Essen eines seiner raren Konzerte gegeben

Wenn man Ornettes Welt betritt, ist das wie großes Kino. Als wäre alles, was dann passiert, gar nicht wahr. Die Berliner Saxofonistin Silke Eberhard berichtete vor zwei Wochen in der Essener Philharmonie: Ornette Coleman sei gerade an ihr vorbeigeschwebt. Das passierte eine gut Stunde vor Colemans einzigem Deutschlandauftritt in diesem Jahr. Colemans Welt misst sich aktuell in mindestens drei unterschiedlichen Zeitzonen: kurz vor dem Konzert, kurz nach dem Konzert und die lange Zeit dazwischen.

Vor seinem Konzert gab es in Essen einen Soundcheck in Konzertlänge, bei dem der Pianist Joachim Kühn am Flügel saß. Er hatte es als Artist in Residence der Essener Philharmonie geschafft, dass Colemans Band samt Management und Soundcrew für dieses eine Konzert aus den USA herüberflog. Kühn und Coleman kennen sich seit gut zehn Jahren, als sie in einem Duokonzert bei den Leipziger Jazztagen die CD „Colors“ aufnahmen. In der Zwischenzeit ließ Coleman Kühn wiederholt einfliegen, um mit ihm in seinem New Yorker Studio stundenlang zu proben. Bis zu seiner kürzlich veröffentlichten pianolosen Quartett-CD „Sound Grammar“ hatte es keine weiteren Neuerscheinungen Colemans gegeben.

In den vergangenen vier Jahren, seitdem Michael Kaufmann die Philharmonie Essen leitet, hat es hier mit wechselnden Kuratoren wie Uri Caine und Carla Bley schon große Konzerte gegeben, Kaufmann sticht mit seiner jazzoffenen Programmpolitik aus dem deutschen Intendantenzirkel angenehm heraus. Auf Kühns künstlerische Residenz soll im Herbst Abdullah Ibrahim folgen, und für Juli ist das seit Jahren einzige Deutschlandkonzert des Keith Jarrett Trios in Kaufmanns Konzerthaus geplant.

Am 14. Februar in Essen wurde also die öffentliche Fortsetzung der Zusammenarbeit von Coleman und Kühn erwartet, doch es kam anders. Während des Soundchecks hatte Ornette Kühn noch gesagt, er dürfe zu seiner Musik spielen, was er wolle. Doch als das Ornette Coleman Quartett die Bühne betrat, der 1.900 Besucher fassende Saal war fast ausverkauft, hatte Kühn seinen Teil des Abends im Grunde schon hinter sich. Man hatte ihn kurzerhand nur ein 40-minütiges Vorprogramm spielen lassen. Kühn kam es vor, als hätte der Coleman-Manager James Jordan alles übernommen, er hätte sich nur noch als Angestellter gefühlt.

Das mochte hinter den Kulissen für allerlei Wirbel und verständliche Verstimmung gesorgt haben, und doch schien das Konzert aus der Saalperspektive sehr gelungen. Coleman war zwar nicht mit seinem langjährigen Kontrabassisten Greg Cohen angereist, sondern mit dem E-Bassisten Al McDowell, der früher schon in seiner Band Prime Time spielte und auch bei seinem Carnegie-Hall-Konzert im letzten Sommer dabei war, damals allerdings noch als dritter Bassist neben Cohen und Tony Falanga. In dem einstündigen Konzert dieses aktuellen Coleman Quartetts gab es dann Stücke wie „Sleep Talking“ und „Out of Order“ mit dem grandiosen Bogenvirtuosen Falanga und Colemans weißem Plastiklook-Altsaxofon im Zentrum, nur gelegentlich griff Coleman zur Trompete, die Geige ließ er links von sich unberührt liegen. Falanga, links hinter Coleman stehend, schien das Konzert streckenweise sogar zu leiten, zumindest navigierte er Coleman durch den Ablauf des einstündigen Programms. Backstage berichtet Jordan später, dass er dies Konzert des neuen Coleman Quartetts in Essen mitgeschnitten habe und möglichst noch in diesem Jahr auf CD herausbringen wolle – da sei für Kühn einfach kein Platz gewesen.

Die spärlichen Konzertansagen Colemans, wenn sie denn akustisch überhaupt verständlich waren, klangen nasal und leise, für das letzte Stück, „Lonely Woman“, und eine knappe Zugabe wird dann schließlich doch noch Kühn dazugeholt. In zwei Wochen wird Coleman 77 Jahre alt und er genießt sichtlich den großen Erfolg in der jüngsten Zeit. In Essen lässt er sich mit Standing Ovations feiern, drei Tage zuvor war er in Los Angeles mit einem Grammy für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Bei der weltweiten Fernsehübertragung war er neben Natalie Cole in einem schwarzen, mit roten Drachen bestickten Seidenanzug sogar als Moderator zu sehen, um den Preis an Carrie Underwood als beste Nachwuchssängerin zu vergeben.

Man kann sich kaum vorstellen, wie steinig der Weg aus dem rassistischen Spannungsfeld in Fort Worth, Texas, wo Coleman und sein Manager und Cousin Jordan aufwuchsen, bis ins Mekka der Musikindustrie gewesen sein muss. Coleman hat immer wieder zu Protokoll gegeben, dass er sich von Religion, Rassismus und Sex befreien wolle, und auch, dass er das Gefühl habe, er werde es nie ganz schaffen.

Hinter der Bühne antwortet der eher scheu wirkende Coleman mit Gegenfragen. So hat er Interviewer schon immer verwirrt, vor allem, wenn es um den für Coleman fundamentalen Zusammenhang von Vagina und Sound geht. Am besten hat es bis heute die Filmemacherin Shirley Clarke geschafft, hinter geheimnisvolle Coleman-Titel wie „Sex Is For Woman“ zu kommen. In ihrem 1985 veröffentlichten Film „Ornette: Made in America“ erzählt er: Vom Sex habe er sich einst durch Kastration befreien wollen, doch der Arzt riet ihm zur Beschneidung. Er sei an dem interessiert, was er während seines Lebens erfahren könne, sagt Coleman, im Film sind dazu Bilder von der ersten Mondlandung zu sehen. CHRISTIAN BROECKING

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