Mit dem Willen zum Guten

Sollen die Grünen wieder radikale Ökologiepolitik betreiben? Der Parteitag schwankt und ringt sich nicht zum Ja durch

„Fundamentalismus ist, wenn man das Gute will, aber das Schlechte erreicht“, sagt Boris PalmerDer Parteitag ist für Reinhard Loskes Antrag. Motto: „Radikaler Realismus im Klimaschutz“

AUS KÖLN HANNES KOCH
UND KATHARINA KOUFEN

Am Samstagnachmittag weht ein Hauch 80er-Jahre – samt ihrem Realo-Fundi-Streit – über den Grünen-Bundesparteitag. Boris Palmer (34), frisch gewählter grüner Bürgermeister in Tübingen, bezichtigt Hans-Josef Fell des „Fundamentalismus“. Der grüne Energiepolitiker habe geholfen, ein Gaskraftwerk der Stadtwerke Tübingen verhindern zu können, ruft Palmer in den Saal. „Unter Fundamentalismus verstehe ich, wenn man das Gute will, aber das Schlechte erreicht“, so Palmer.

Fell (54), vollbärtig, grünes Urgestein, verteidigt sich am Rednerpult. Palmer arbeite mit „Unterstellungen“, „diffamiere“ ihn und würde „einen Popanz aufbauen“. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden spiegelte die wichtigste Kontroverse des Parteitags in Köln. Sollen die Grünen wieder radikale Ökologiepolitik betreiben? Oder kehren sie damit in eine politische Nische am Rande der Gesellschaft zurück, der sie glücklich entflohen sind?

Für eine radikale Position steht Hans-Josef Fell. Er fordert eine „Nullemissionsstrategie“. Um die globale Klimaerwärmung im Griff zu halten, soll der Ausstoß von Kohlendioxid möglichst bald nahe null sinken. Fells Forderung: Es dürfen überhaupt keine neuen Kohle- und Gaskraftwerke mehr gebaut werden. Er will nur Kraftwerke zulassen, die erneuerbare Energie nutzen.

Um das praktisch durchzusetzen, hat sich der Energiepolitiker unlängst in die Amtsgeschäfte Boris Palmers eingemischt. Fell unterstützte ein Bürgerbegehren in der Stadt Wertheim am Main. Die Einwohner verhinderten ein Gas- und Dampfkraftwerk, das unter anderem die Stadtwerke Tübingen dort planten. Die Gas- und Dampftechnik auf der Basis von Erdgas gilt als relativ saubere Alternative zu Kohlekraftwerken. Deshalb schäumte Palmer noch gestern: Gefreut über Fells erfolgreiche Intervention habe sich nur der Stromkonzern EnBW, der nun als Ersatz ein dreckiges Kohlekraftwerk am Rhein baue könne.

Umweltpolitiker Reinhard Loske unterstützte Palmer. Die Grünen dürften sich nicht von der Realpolitik abkoppeln, argumentierte Loske. Es sei der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln, wenn man nicht nur die Atomkraft, sondern auch Kohle- und Gaskraftwerke grundsätzlich ablehne.

Diese Position bekam schließlich die Mehrheit des Parteitags: Die Delegierten lehnten die Nullemissionsstrategie ab und unterstützen Loskes Antrag unter dem Motto „Radikaler Realismus im Klimaschutz“.

Realistisch und radikal – klingt gut, ist aber auch Ausdruck einer gewissen Orientierungslosigkeit der Grünen nach sieben Jahr rot-grüner Bundesregierung. Im Hinblick auf die Bundestagswahlen im Jahr 2009 soll nun die Rückbesinnung auf das grüne Urthema „Ökologie“ Orientierung geben. Boris Palmer hat mit der Fokussierung auf Ökologie die Universitätsstadt Tübingen erobert – das gibt vielen Delegierten Hoffnung.

Aber kann das auch bundesweit funktionieren? Für viele Bundesbürger ist der befürchtete Klimakollaps weit weg – gerne nutzt man billige Flüge auf die Kanarischen Inseln. Außerdem haben mittlerweile auch SPD, CDU und FDP das Klimathema entdeckt.

Aus dieser kniffeligen Konkurrenzsituation versucht der Bundesvorstand um Claudia Roth und Reinhard Bütikofer herauszukommen, indem man den Wählern alles auf einmal verspricht: ganz viel Klimaschutz und ganz viel Wohlstand. Denn strenge Umweltgesetze sollen die Autoindustrie zwingen, benzin- und schadstoffarme Fahrzeuge herzustellen. Die könne man dann gut verkaufen, um viele Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings sehen auch die Grünen selbst noch Diskussionsbedarf: Der Leitantrag zum Klimaschutz gipfelt in der wegweisenden Forderung, die Debatte im kommenden Jahr fortzusetzen.

Positiv betrachtet, ringen die Grünen um tragfähige, profilschärfende Positionen. Negativ betrachtet, wissen sie gerade nicht so recht, wohin es gehen soll.

Das gilt auch für die Debatte über den Sozialstaat. „Was ist heute sozial?“, fragte Brigitte Pothmer, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Wie umgehen mit Hartz IV – weiter reformieren oder eine grundsätzliche Alternative suchen?

Theoretisch zumindest steht diese zur Verfügung. Ein Teil der Grünen plädiert für das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen. Die von vielen als Entwürdigung empfundenen Hartz-IV-Verfahren und die Quasipflicht zur Arbeit würden abgeschafft. Mit Letzterer haben viele Grüne ein Problem. Die Gesellschaft dürfe sich nicht aus der Verantwortung für die Erwerbslosen verabschieden, formulierte Wirtschaftspolitiker Matthias Berninger das Unwohlsein. Aber auch hier: Keine Entscheidung – der Parteitag beschloss, die Debatte im kommenden Jahr weiterzuführen.

Der Mangel an eindeutiger Botschaft und die Anmutung von mitunter etwas grauer Normalität dürfte dazu beigetragen haben, dass die Wahlergebnisse für Claudia Roth und Reinhard Bütikofer schlechter ausfielen als vor zwei Jahren. Roth erhielt 66,5 Prozent der Stimmen (2004: 78 Prozent), Bütikofer 71,8 Prozent (früher: 85).

Teilweise hat sich der Bundesvorstand das schlechte Ergebnis aber auch leichtfertig selbst beigebracht. In Fehleinschätzung der grünen Parteiseele hatten Roth und Bütikofer eine Woche vor dem Parteitag das neue Logo der Grünen veröffentlicht. Viele Mitglieder überlegten angestrengt und vergeblich, ob die Parteiführung ihnen von diesem Vorhaben jemals etwas erzählt habe. In solchen Momenten leben die grünen Urinstinkte wieder auf. Jede Macht ist schlecht, herrschaftsfreie Kommunikation dagegen super. Deshalb brodelte der Parteitag. Das Präsidium befürchtete, dass das neue Logo abgelehnt würde. Vorsichtshalber zog der Bundesvorstand seinen Vorschlag zurück – ein Begräbnis zweiter Klasse.