Schicksalswahlen für den Präsidenten

Die Bürgermeisterwahlen in Taiwans Hauptstadt Taipeh am 9. Dezember gelten als Test für Staatschef Chen Shui-bian. Der ist wegen zahlreicher Korruptionsaffären angeschlagen. Verliert Chens Partei, könnten sich die Genossen gegen ihn wenden

AUS TAIPEH JUTTA LIETSCH

Schnaufend hält der Müllwagen an der belebten Ren-Ai-Straße im Herzen von Taipeh. Wie immer zu dieser Abendstunde warten die Anwohner mit ihren Abfallsäcken in der Hand. Heute kommt die Müllabfuhr nicht allein. Dicht folgen kleine Lieferwagen. Sie sind mit Wahlkampfplakaten beklebt, auf denen Kandidaten etwa werben: „Stimmt für Nr. 7!“

Die 2,5 Millionen Einwohner der Hauptstadt Taiwans wählen am 9. Dezember einen neuen Bürgermeister und neue Stadträte. Wahlkämpfe in der jungen Demokratie der Insel sind laut und lebendig – selten jedoch so sehr wie in diesen Tagen. Eine Debatte überschattet die Lokalpolitik. Es geht um nichts weniger als das Schicksal des Präsidenten. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Enthüllungen und Gerüchte über Korruption und Betrug, Affären und Skandale in den höchsten Etagen der Politik.

Im Zentrum stehen Staatschef Chen Shui-bian und seine Frau Wu Shu-chen. Gegen die First Lady beginnt am 15. Dezember ein Prozess. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, unter anderem einen rund 30.000 Dollar teuren Diamantring zum Teil mit öffentlichen Geldern finanziert zu haben. Außerdem habe sie ihrem Mann geholfen, rund 320.000 Euro aus dem „Sonderfonds für staatliche Angelegenheiten“ des Präsidenten mit falschen Quittungen abzurechnen. Wenn sein Amt ihn nicht vor juristischer Verfolgung schützen würde, müsste sich Chen ebenfalls vor Gericht verantworten.

Auf der Insel verfügen 6.500 hohe Funktionäre und Politiker über Sonderfonds, aus denen sie zu Geburtstagen, Hochzeiten oder Beerdigungen Geschenke für wichtige Personen finanzieren. Jahrzehntelang war es üblich, einen Teil dieser Gelder als Zusatzgehalt zu betrachten.

Auch der Präsident verwaltet einen diskreten Fonds. Was er mit dem Geld machte, ist nicht klar. Sicher ist, dass die kleine, von der internationalen Gemeinschaft isolierte Insel im Wettbewerb mit dem chinesischen Drachen immer wieder Mittelsmänner und Agenten bezahlt, die in der Grauzone von Diplomatie und Geheimdiensten aktiv sind.

Die Taiwaner hatten große Hoffnungen in den ehemaligen Bürgerrechtler Chen gesetzt, der 2000 als erster demokratisch gewählter Politiker nach Jahrzehnten der Diktatur erfolgreich für die Demokratische Fortschrittspartei DPP kandidiert hatte. Doch die Familie Chens „konnte den Versuchungen der Macht nicht widerstehen“, klagt die Parlamentsabgeordnete Lai Shin-yuan, die vier Jahre als Sicherheitsberaterin im Nebenzimmer des Präsidenten arbeitete. „Ich bin sehr enttäuscht“, sagt sie.

Wie sie denken viele: Hunderttausende Taiwaner haben im Sommer wochenlang den Präsidentenpalast belagert und Chens Rücktritt gefordert. Darunter waren viele, die große Hoffnungen in ihn gesetzt hatten, weil er sich für eine größere Selbständigkeit der Insel gegenüber dem kommunistisch regierten Festland eingesetzt hatte.

Chen und seine Frau haben alle Vorwürfe zurückgewiesen. Falls Wu verurteilt werde, verlasse er sein Amt, kündigte der Präsident an. Dann käme seine Stellvertreterin Annette Lu für knapp zwei Jahre an die Macht. Wenn jedoch bei den Bürgermeisterwahlen in den Millionenstädten Taipeh und Kaoshiung am 9. Dezember Chens DPP in der Wählergunst einbrechen sollte, muss der Präsident damit rechnen, dass seine Partei rebelliert.

Der wichtigste Rivale des Präsidenten, Taipehs Bürgermeister Ma Ying-jeou, kann sich über den politischen Niedergang Chens nicht recht freuen. Auch er droht über Betrugsvorwürfe zu stolpern. Als Chef der oppositionellen nationalistischen Kuomintang-Partei KMT will Ma 2008 Nachfolger von Chen werden. Der 60-jährige Ma galt als Wunderwaffe der Partei, die das Land mit eiserner Faust regiert hatte: gut aussehend und ehrlich, beliebt bei jungen Geschäftsleuten und der städtischen Mittelschicht, demokratisch gesinnt und verbindlicher im Ton gegenüber dem kommunistischen Bruder China als Chen.

Peking verfolgt das Geschehen auf der Insel überraschend schweigsam. Chen ist äußerst unbeliebt bei der KP, weil er in den letzten Jahren versuchte, die kulturelle und politische Eigenständigkeit der Insel zu stärken, und um mehr internationale Anerkennung kämpfte. China dagegen hält die Insel für eine abtrünnige Provinz, die unter Pekings Herrschaft zurückkommen müsse. Doch wer erwartet hatte, dass die Zeitungen auf dem Festland über Chen herfallen, sieht sich getäuscht. Chinas Politiker sind selbst in schwere Korruptionsfälle verwickelt, wobei es um weitaus höhere Summen geht. Da wollen sie ihre Bürger wohl nicht unnötig zu Vergleichen anregen.