Filigranes von der Stahlrohrfraktion

STAHL Die Fahrradbranche feiert die Rückkehr eines Traditionsmaterials. Doch so ganz weg war der Stahl eigentlich nie – trotz Alu-Boom

Ein traditionell hergestellter Stahlrahmen: schlanke Rohre, denen man die Handwerkskunst ansieht

VON PAUL DA CHALET

„Stahlräder gehören längst nicht zum alten Eisen“, so das Credo des Saarbrücker Herstellers Utopia Velo, der seit fast 30 Jahre daran arbeitet, Solidität mit Hightech zu verbinden. Bis heute erlaubt er sich, aufs Aluminium zu pfeifen, auf das Leichtmetall, das in den letzten 20 Jahren vom Mode- zum Mainstreammaterial avanciert ist. Nicht so bei Utopia, zumindest bei den Rahmen setzt man dort ausschließlich auf Stahl. Auch für die Traditionsfirma Kleinebenne („Patria“) sind stählerne Rahmenrohre, die sie mit Muffen und in Handarbeit zusammenlötet, nach wie vor die eindeutigen Favoriten. Es ließe sich eine Reihe von Herstellern finden, die dem klassischsten aller Fahrradwerkstoffe nie untreu geworden sind.

Doch der heute im Rahmen- und Lenkerbau verwendete Stahl ist längst nicht mehr das aus Eisenerz gewonnene schwere Schlichtmetall, sondern ein verfeinertes Legierungsprodukt, das dünnwandige Rohre erlaubt. Dank Konifizierung sind sie nur noch an den hochbelasteten Stellen verstärkt. Insgesamt zeichnen sie sich durch hohe Elastizität und Belastbarkeit aus. Und schaut man aufs Gesamtgewicht eines Rades, in das ja noch viele andere Bauteile einfließen, ist ohnehin kein relevanter Unterschied zu Alurahmen messbar. Zudem ist Stahl das ökologischere Produkt: Für seine Herstellung müssen weniger Energie und natürliche Ressourcen eingesetzt werden.

Ein Rahmenbauer wie Rudolf Pallesen verweist beim grundsätzlichen Vergleich der beiden Materialien auf die „dreifache Zugfestigkeit und dreifache Biegefestigkeit“ des Stahls. Wie Utopia präsentiert Pallesen, Gründer und Geschäftsführer der Firma Norwid, an diesem Wochenende seine Produkte auf der Fahrradmesse VELOBerlin. Und zwar in der Sektion „fine.art.handmade“, wo er individuelle Fahrradrahmen zeigt, hergestellt nach den Wünschen und Maßen der Kunden.

Von solchen Unikaten, gelötet mit Muffen oder auch ohne, fertigt die Norwid-Fahrradbau GmbH nicht mehr als 120 bis 150 Stück jährlich. Daneben verbaut sie noch Rahmen in Standardgeometrien, die sie aus Tschechien importiert – doch immer handelt es sich um Handarbeit aus Edel- oder Chrom-Molybdän-Stahl.

Das macht man so seit Gründung der Manufaktur im Jahre 1992, und das wird auch so bleiben, versichert Pallesen. Er liebt den Stahl jedoch nicht nur wegen dessen Materialeigenschaften. Ein traditionell hergestellter Stahlrahmen ist für ihn ein Metallgebilde aus schlanken Rohren, dem man das Filigrane und die Handwerkskunst ansehe. „Mittlerweile haben viele Menschen dafür den Blick. Sie bringen Stahl mit „schön“ und „dauerhaft“ zusammen, leider auch mit „schwer“. Alu dagegen gilt als modern und leicht – und so kauft man sich im Endeffekt einen Aluhobel für tausend Euro.“

Kein Wunder, dass sich die Stahlrohrfraktion immer mal wieder auf die Suche nach der Superlegierung macht, nach stählernen Innovationen. Ganz neu ist eine Abmischung, die bald zum Einsatz kommt. Vorerst nicht im Rahmenbau, sondern in Lenkern der Firma Wilhelm Humpert, die sich ebenfalls auf der Berliner Messe zeigt: ein durch Titan und Niob angereicherter Spezialstahl, Micro Alloy Steel, für Humpert „das Lenkerbügelmaterial der Zukunft“.

Die Entwicklung habe vier Jahre gedauert, jetzt werde es in Europa exklusiv für sein Unternehmen hergestellt, berichtet Rolf Häcker, bei Humpert für Entwicklung und Produktmanagement zuständig. Und kommt dabei fast ins Schwärmen: „Das Material ist besonders zäh und zugfest. So zugfest, dass wir die übliche Wandstärke des Stahlrohres von etwa 1,5 Millimetern auf 1,0 Millimeter reduzieren können.“ Obwohl Lenker-Leichtgewichte, könnten sie ein Gesamtgewicht von 160 Kilo verkraften. Eine Steigerung, die gerade für die etwas schwereren Fahrräder mit Assistenzmotor von Bedeutung wäre. Und natürlich sei Humperts Wunderstahl auch langlebiger. Hinweise, die auf die billigen Alulenker aus Fernost abzielen könnten. Die haben den Ruf, schon nach relativ kurzer Zeit zu brechen.

Humpert produziert jährlich mehrere Millionen Lenkerbügel, davon 30 bis 40 Prozent aus Aluminium. Könnte sein, dass mit seinem Micro Alloy Steel – ab Sommer in Lenkerform – die Übermacht des Stahls noch größer wird.

Ganz anders liegen die Dinge im Rahmenbau. Trotz des verkündeten Stahl-Comebacks ist Aluminium nach wie die Nummer eins unter den hier verwendeten Rahmenmaterialien. Dass auch die Massenprodukte etwas taugen können, gibt selbst der streng stahlorientierte Rudolf Pallesen zu: „Es werden auch gute Alurahmen gebaut, natürlich.“ Aber mit Handwerk habe das nichts zu tun.