Ein Sonntag am AKW

BEHARRLICHKEIT Die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake kämpft gegen Atomkraft. Und feiert traurige Erfolge

Aus dem Werk plätschert ein kleiner Wasserfall in die Weser, Vögel fliegen an den Türmen vorbei

VON MARIA ROSSBAUER

Dass man sich für all das hier begeistern kann, die Technik, die unter den riesigen grauen Kühltürmen steckt – irgendwie verstehen kann sie es ja doch. Inge Schmitz-Feuerhake blickt beim Gehen hin und wieder kurz auf die zwei Türme, die die Landschaft in der Nähe von Hameln dominieren. Auf dem schmalen Feldweg hinter dem Atomkraftwerk Grohnde drängeln sich Inlineskater und Radfahrer vorbei, ein Bauer hat wohl vor Kurzem seine Felder gedüngt, es riecht nach Gülle. Die Sonne scheint wie bestellt für diesen Sonntagnachmittagsspaziergang.

„Am Anfang hatte ich eigentlich keine Vorbehalte gegen die Atomtechnik“, erzählt die Frau, die seit Jahrzehnten dagegen kämpft. Die Strahlenforscherin, die Ursachen suchte, warum um das Atomkraftwerk Krümmel so viele Kinder an Leukämie erkrankten. Die Physikerin, die sich schon in ihrer Doktorarbeit mit radioaktiver Strahlung befasste und dann davor warnte, dass niemand die Atomtechnik je beherrschen wird.

Jahrelang griffen Behörden und Kollegen sie an, warfen ihr vor, dass sie wissenschaftlich unsauber arbeitet, weil sie eine klare Meinung gegen die Atomenergie vertritt. Heute, während der Atomkatastrophe in Japan, hat sie mehr Menschen auf ihrer Seite denn je. Irgendwie ein trauriger Erfolg.

Schmitz-Feuerhake läuft mit strammem Schritt nach vorne, die linke Hand fest an der schwarzen Lederhandtasche. Sie blickt ernst durch ihre randlose Brille, die weißblonden Haare fallen ihr teilweise ins Gesicht, ihre Mundwinkel ziehen nach unten. Wenn sie erzählt, liegt immer ein wenig Schwermut auf ihrer Stimme.

Schmitz-Feuerhake ist Physikerin und Mathematikerin. Einige Jahre arbeitete die heute 75-Jährige am Institut für Nuklearmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Dort war sie auch Betriebsleiterin eines Forschungsreaktors. 1973 wurde sie an die Uni Bremen berufen, als Professorin für experimentelle Physik. Die Universität bezeichnete sich damals als Reformuni und galt als „linke Kaderschmiede“. Schmitz-Feuerhake traf dort auf Physiker, die sich kritisch mit der Atomenergie auseinandersetzten.

Seit Mitte der Achtziger registrierte man rund um das AKW Krümmel überdurchschnittlich viele Kinder, die an Leukämie erkrankten. Schmitz-Feuerhake nahm Staubproben in Häusern der Gegend, maß dessen radioaktive Belastung, testete das Blut einiger Anwohner. Sie war sich sicher: Es müssen mehr radioaktive Stoffe aus den Reaktoren entwichen sein, als die Betreiber des Kernkraftwerks und des benachbarten Forschungsreaktors Geesthacht zugaben. „Wir gehen davon aus, dass 1986 im Forschungsreaktor Geesthacht ein Unfall stattgefunden hat, der vertuscht wurde. Daher kommt vor allem die zu hohe Strahlenbelastung.“ Behörden und Betreiber sagen nach wie vor, erhöhte Emissionen aus den Reaktoren habe es dort nie gegeben. Sie bestätigen mittlerweile aber, dass es damals eine radioaktive Wolke gab, jedoch: „Sie behaupten, an dem Tag hätte sich zufällig natürliches Radon aus der Erde aufgestaut, durch eine besondere Wetterlage“, Schmitz-Feuerhake lacht bitter, „das ist wissenschaftlich gesehen absoluter Quatsch.“

Schmitz-Feuerhake geht kurz zur Seite, lässt Radfahrer vorbeiziehen. Schilder am Straßenrand preisen die Wanderwege und Cafés der Gegend. Die Kühltürme werfen mächtige Schatten auf die Weser. „Gerade jetzt wirken die doch besonders bedrohlich“, sagt die Physikerin.

Andere Experten warfen ihr Befangenheit vor. Ein Kollege bezichtigte sie öffentlich der Manipulation. „Wir alle sind ständig attackiert worden, insbesondere ich“, erzählt Schmitz-Feuerhake.

Seit zehn Jahren ist die Forscherin nun in Pension. Inzwischen hat eine andere Arbeitsgruppe ihre umstrittenen Messungen um Krümmel bestätigt. Das Bundesamt für Strahlenschutz veröffentlichte 2007 eine groß angelegte Studie, die bestätigt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Wohnungsnähe zu den Kernkraftwerken und dem Risiko, vor dem fünften Geburtstag an Leukämie zu erkranken. „Durch all das fühle ich mich rehabilitiert“, sagt Schmitz-Feuerhake. Auch wenn die Krebsraten offiziell ein unerklärliches Phänomen bleiben.

Grohnde gilt als eines der sichersten Atomkraftwerke in Europa. Doch auch die Kinder, die hier wohnen, erkranken schneller an Leukämie als anderswo in Deutschland. Aus dem Werk plätschert ein kleiner Wasserfall in die Weser, die heute besonders viel Wasser zu führen scheint. Vögel fliegen an den Türmen vorbei, schrauben sich in die Höhe.

„Ich bin nicht gerade ein Empfindungsmensch“, sagt die Professorin im Ruhestand. Sie sieht sich eher als eine, die misst, bewertet, erneut misst. Doch sie ist auch Mitbegründerin der Gesellschaft für Strahlenschutz, Vorsitzende des European Commitee on Radiation Risk – einer Gruppe atomkritischer Wissenschaftler. Und im Jahr 2003 bekam sie den Nuclear-Free Future Award für ihr Lebenswerk verliehen.

Sie ist gegen Atomkraft. Kann man so trotzdem unvoreingenommen forschen? „Jeder Wissenschaftler weiß, dass es keine absolute Objektivität gibt“, sagt Schmitz-Feuerhake bestimmt. Sie bleibt kurz stehen, lässt wieder zwei Radfahrer durch. Dann redet sie weiter. „Es ist albern, das für sich zu beanspruchen.“

Auch heute noch kämpft Schmitz-Feuerhake für die Anerkennung der Tschernobyl-Folgen. Für einen Kongress ist sie auch einmal dort gewesen. Tot fühle es sich dort an, überall leer stehende Häuser, irgendwie gespenstisch. Die Bäume aber wachsen weiter. „Die Natur kommt doch über so einiges hinweg, besonders ohne uns“, sagt Schmitz-Feuerhake.

Die Verharmlosung von Umweltschäden hat international Tradition, dessen ist sich Schmitz-Feuerhake gewiss. „Das ist in Japan sicher noch mehr so als bei uns.“ In Deutschland glaubten viele Menschen den Risikobeurteilungen der Behörden nicht mehr, doch die Japaner seien da wohl autoritätsgläubiger. „Noch“, sagt sie, „aber wahrscheinlich können Behörden und Betreiber das ganze Ausmaß gar nicht beurteilen.“

Sie klingt verbittert. Schmitz-Feuerhake ist eine Frau, die Jahrzehnte gekämpft hat. Nun ist sie 75 Jahre alt, und man kann heraushören, dass sie das Gefühl hat, keinen Schritt weitergekommen zu sein.

„Ich hoffe schon, dass sich jetzt endlich was ändert“, sagt Schmitz-Feuerhake, „aber selbst wenn, glaube ich, dass es zu spät ist.“ Zu spät für einen Wechsel in der Energiepolitik, zu spät für das Klima, für die Welt. „Wir befinden uns in so einer Zauberlehrlingssituation. Da kommen wir nicht mehr raus.“

Sie geht ein wenig langsamer, sieht in den Himmel. Aus den Kühltürmen steigen ganz zaghaft weiße Wolken. „Manchmal gibt es aber auch Überraschungserlebnisse, kleine Schritte, die … Aber nein, eigentlich nicht.“

Sie will trotzdem weitermachen, weiterprotestieren, aufklären gegen die „Lügen im Strahlenschutz“. „Ich hatte ohnehin nie das Gefühl, dass ich viel bewirken kann“, sagt sie.

Sie konnte nur auch nicht aufgeben.