berliner szenen Baustau

Die China-Arbeitsmoral

Vor einem Jahr bin ich in diese Straße gezogen. Wie viele andere wird sie gerade gentrifiziert. Alles soll schön hübsch aussehen, auch vor meinem Haus gibt es die obligatorische Baustelle. Die Straße soll neu gemacht werden. Das sind knapp 800 Meter. Die Arbeitszone bestand zuletzt aus 300 Metern, und in dieser Zone war immer sehr viel los. Mindestens fünf und bis zu fünfzehn Männer arbeiten dort schon sehr lange. Jedoch ihr System ist für Außenstehende schwer zu durchschauen. Zuerst haben sie die Straße aufgerissen, dann komplett geteert, um sie wieder aufzureißen und mit kleinen Steinen auszulegen. Alle Löcher sind noch längst nicht zu. Sie haben sich wie klaffende Fragezeichen in der Straße eingerichtet. Genau wie die Bauarbeiter.

Wir Nachbarn mögen sie, wie sie mittlerweile im Jahreszeitenrhythmus auf ihren Schippen stehen und gegen die Sonne, den Schnee und den Regen schauen. Die Hälfte von ihnen ist zwar permanent völlig arbeitslos, aber versucht trotzdem ständig, den Anschein von Betriebsamkeit zu wahren. Lustig ist immer, wenn mein chinesischer Freund Li zu Besuch kommt. Er schaut von der Küche aus auf die Szenerie und staunt. Dann sagt er ganz ernst, in Peking würde in der Zeit, in der sie hier einen kleinen Bürgersteig ausbessern, ungefähr ein Hochhauskomplex gebaut.

Gestern sehe ich aus dem Fenster. Es nieselt und jemand zieht neu ins Haus. Plötzlich muss ich laut lachen. Denn die Bauarbeiter helfen dem künftigen Mieter beim Umzug. In ihren Gesichtern ein Strahlen, das besagt: Man tut das Richtige, überhaupt tut man etwas. Zu sechst hieven sie Mobiliar in den dritten Stock – ein Bild wie aus einer Mentos-Werbung. Ich habe gleich Li angerufen, und er hat sich sehr gefreut. TIMO FELDHAUS