berliner szenen Das Alphabet der Stadt

W wie Wedding

Berlin Leopoldplatz: Menschen mit Bierflaschen sitzen auf Kirchenstufen mit Blick auf hässliche Fünfzigerjahre-Bauten. Ein unglaubliches Rathaus mit unglaublicher Bibliothek. Ringsum Kaufhäuser und Geschäfte, und weil es ein schöner Tag ist, haben alle ihre Waren rausgestellt. Teppiche, Kleider, Tand, Obst und Gemüse. Nur Juwelier und Waffengeschäft, in nötigem Abstand, behalten ihre Waren für sich. Obwohl auch der Waffenladen mit „reduzierten Preisen“ wirbt.

Auf den Gehwegen dominieren Menschen mit Plastiktüten. Die Plastiktüten sind bunt oder schlicht, großformatig oder klein. Weitere Menschen sitzen auf Steinen. Sie tragen Baseballkappen, obwohl sie noch Haare haben. Wieder andere tragen Militärsachen und schieben Buggys vor sich her, diese gern auch ohne Kinder, dafür mit noch mehr Plastiktüten. Eine kleinwüchsige Behinderte hat sich ihren Rollstuhl zum Rollbett umbauen lassen und fährt lässig liegend durch die Müllerstraße.

Das Leben spielt sich an Haltestellen ab. Dieser kleine Satz trifft auf den Wedding besonders zu, sei es an der Osloer oder der Seestraße, am Gesundbrunnen oder hier am Leopoldplatz. Der 327er nach Schönholz nimmt Leute auf, die Sitzplätze werden nicht mehr. Eine dicke Frau nähert sich und möchte auf den letzten freien Platz. Alle stehen auf.

Eine junge Frau, ganz in Schwarz mit weißen Nike-Tretern, brauen- und lippengepierct, blättert in ihren Bewerbungsunterlagen und raucht. Eine Rentnerin mit Wägelchen und Tchibo-Prospekt fragt sie nach der Uhrzeit. Die junge Frau holt ihr frotteeverpacktes Handy hervor und sagt eine um fünf Minuten falsche Uhrzeit. Die Rentnerin bedankt sich und steigt in den 120er nach Frohnau.

RENÉ HAMANN