die taz vor elf jahren über michail gorbatschows versuch, russlands präsident zu werden
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Längst war er zu einer Gestalt der Zeitgeschichte geworden. Niemand hatte seine Ankündigungen, in die Politik zurückkehren zu wollen, mehr ernst genommen. Die Demokraten waren von ihm abgerückt, als er die Demokratie und die Wirtschaftsreformen nicht entschieden genug vertrat und versuchte, die Sowjetunion auch gewaltsam zusammenzuhalten. Sie wandten sich dem farbigeren und medienwirksameren Boris Jelzin zu. Michail Gorbatschow war bei den Demokraten, rund heraus gesagt, schlecht gelitten.

Gorbatschow war im Sowjetapparat groß geworden, wie Jelzin. Wie dieser war er ein Machtmensch. Die Unterschiede aber sind beträchtlich: Es zeigte sich bald, daß Jelzin außer Kühnheit in kritischen Situationen keine intellektuellen und moralischen Reserven besaß. Wenn Gorbatschow Gewalt einsetzen ließ, um die UdSSR zusammenzuhalten, dann war dahinter noch eine politische Konzeption erkennbar. Die Blutbäder, die sein Nachfolger zu verantworten hat, lassen sich damit nicht mehr gleichsetzen.

Wie Jelzin war Gorbatschow zum Schluß seiner Amtszeit von einer dubiosen Kamarilla umgeben, die seine Realitätswahrnehmung beschädigte. Lächerlich war er aber nie. Der grölende Triumph Jelzins, als Gorbatschow nach dem Putsch von 1991 hilflos geworden war, hätte dem Sieger schaden können, wenn die Öffentlichkeit moralische und politische Sensibilität besessen hätte. Daß Gorbatschow als Staatsmann eine große historische Statur besaß, auch wenn ihm die Entwicklung schließlich entglitt, wurde nur von den russischen Demokraten bestritten.

Eigentlich könnte Gorbatschow als Kandidat bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen einige Chancen haben. Jelzins liberales Prestige ist aufgezehrt, sein staatsmännischer Weitblick war immer nur auf Krisen fixiert. Daß einige Demokraten jüngst zähneknirschend die Unterstützung Jelzins beschlossen, um einen kommunistischen Präsidenten Sjuganow zu verhindern, kam einer Bankrotterklärung gleich.

Auch Gorbatschow stellt sich nun als Bollwerk gegen eine Rückkehr der Kommunisten dar. Seine Kandidatur wird gleichwohl nur im Westen große Beachtung finden. In Rußland verabscheut man ihn, weil er das tat, was ihm die rechtsextremen Patrioten nun vorwerfen: die Einführung der Demokratie, die Wirtschaftsreformen und die Auflösung der Sowjetunion.

Erhard Stölting in der taz vom 2. 3.1996