Verspätete Exorzismen

LITERATUR Das türkische Literaturfestival DilDile in der Volksbühne wagt nicht viel, liefert aber den notwendigen Diskussionsstoff für die linksintellektuelle Community mit türkischem Hintergrund

Der Abend machte klar, dass die ethnisch-religiöse Reinheitsfantasie des türkischen Staates noch lange nicht überwunden ist, dass aber endlich etwas passiert

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Wo man seit gefühlten Jahrzehnten hockte und Pollesch-, Kuttner- oder Castorf-Wortkaskaden lauschte, saß man jetzt und hörte die Menschen in den muffigen Stuhlreihen um sich herum Türkisch sprechen. Und merkte, wie so ein neuer Sound einen ganzen Ort in ein neues Licht tauchen kann. Ein leichtes Frühlingsgefühl lag also über der Volksbühne, als dort am Freitag das Literaturfestival „DilDile“ Eröffnung feierte.

„DilDile“ heißt übersetzt „Von Sprache zu Sprache“. Das Festival will sich erklärtermaßen um junge türkische Literatur und einen „übergreifenden Eindruck des vielfältigen Panoramas der türkischen Literaturszene“ kümmern sowie türkische Literatur „längerfristig in den Berliner Literaturbetrieb eingliedern“. Und das in einer Zeit, in der in der Türkei „nicht nur politisch einiges im Umbruch“ ist, sondern die türkische Kultur – das Festival betont es mit lässiger Selbstverständlichkeit – längst Teil der deutschen ist.

Latent enttäuschend

Ein Team um Orlanda-Verlag, Diyalog-Theaterfestival und Volksbühne hat das Festival mit seinen sechs Abenden erstmalig auf die Beine gestellt. So erfrischend die Programmatik klingt, so latent enttäuschend schmal beziehungsweise altbekannten Namen verpflichtet ist aber das Programm. Nur am ersten Aprilabend werden zwei junge Autoren vorgestellt, ansonsten sieht es mit Namen wie Mario Levi, dem erst vor Kurzem aus der türkischen Skandal-U-Haft entlassenen Dogan Akhanli oder einem Filmabend über die sechs wohl bekanntesten türkischen Schriftsteller überhaupt (Nazim Hikmet, Yasar Kemal, Orhan Pamuk, Elif Safak, Murathan Mungan und Asli Erdogan) so aus, als sei man lieber erst mal auf Nummer sicher gegangen. Aber vielleicht ist die Hauptsache, dass man mit so einem Festival an einem deutschen Staatstheater überhaupt mal anfängt.

Womit wir wieder beim Freitag wären. Es saßen auf dem Sofa: Fethiye Cetin, Autorin und Anwältin (u. a. der Familie von Hrant Dink), die Schriftstellerin Sema Kaygusuz und eben Dogan Akhanli. Sie alle treiben mit ihrem Schreiben die in der Türkei so irrwitzig lange verweigerte Aufarbeitung der diversen von den Türken im Zuge der Nationalstaatswerdung verübten Verbrechen voran und kritisieren – was ohne die Gefahr der Strafverfolgung erst seit etwa zehn Jahren möglich ist – die Blindheit der bis heute gültigen Atatürk’schen Republikdoktrin (ein Volk, eine Sprache, eine Religion). Ob sie wie Cetin die Berichte der Großmutter über den Völkermord an den Armeniern 1915–17 literarisch aufarbeiten, wie Kaygusuz die Diskriminierung der alevitischen Minderheit thematisieren oder wie Akhanli die Beschäftigung mit der Vergangenheit ganz allgemein als Voraussetzung für Demokratie einfordern: Der Abend machte klar, dass die ethnisch-religiöse Reinheitsfantasie des türkischen Staates noch lange nicht überwunden ist, dass aber endlich etwas passiert.

Interessant war Akhanlis Einlassung über den „Lernort Deutschland“: Ein Land, das ebenfalls seine Erfahrung mit Genozid gemacht habe, auf dem Weg der Aufarbeitung viel weiter sei, eröffne Türken die Möglichkeit, über schwierige Themen zu sprechen und aussöhnende Begegnungen anzustoßen.

Ein vergurkter Abend

Leichtfüßiger wurde es auch am Samstag im Roten Salon nicht. Der Journalist und Autor Murat Uyurkulak las aus seinem Roman „Zorn“, in dem er in saftiger, poetisch unbändiger Sprache die türkische Linke seit den Fünfzigerjahren porträtiert. Uyurkulak allein wäre locker genug gewesen für diesen Abend – die ausschließlich an ihn gerichteten Publikumsfragen unterstrichen dies –, die Veranstalter hatten es aber für sinnig befunden, Ulrich Peltzer mit auf die Bühne zu setzen. So à la: Da beschäftigen sich zwei Autoren mit den abgerissenen Fäden linker Geschichte in ihren Ländern, die haben sich sicher etwas zu sagen. Hatten sie aber nicht. Wo soll auch Vergleichbarkeit herkommen, wenn in einem Land eine Linke durch Militärputsch, Verfolgung und Folter quasi ausgelöscht wird, sie sich im anderen aber wegen Ideenlosigkeit mehr oder weniger von allein auflöst. Ein in seiner Anlage schrecklich vergurkter Abend, der beide Autoren nicht gut dastehen ließ – der eine vom Moderator als glutäugig mediterraner Hitzkopf stilisiert, der andere zum verkopften West-Diskurslinken gelobhudelt.

Eines aber wurde an beiden Abenden klar: Auch wenn „DilDile“ es nicht schafft, ein wirklich spannendes Angebot an junge Literaturinteressierte jenseits ihrer Herkunft zu formulieren – für die linksintellektuelle Community mit türkischem Hintergrund ist so ein Festival wichtig. Die Themen brennen den Leuten auf den Nägeln, und auch wenn man als nurdeutscher Mensch mit all den rosa Kaninchen und Anne Frank im Kinderbuchregal manchmal das Gefühl hat, einem bizarr verspäteten Exorzismus beizuwohnen – es ist gut, dass er stattfindet, hier in Berlin.

■ Wieder am: 31. 3., 1. und 2. 4.; www.dildile-literaturfestival.com