die taz vor 17 jahren über den außerordentlichen Kongress des Schriftstellerverbandes der DDR
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Eine Mehrheit der DDR-SchriftstellerInnen hat sich gegen einen klaren Bruch mit der alten Macht und für den Versuch einer Reform ausgesprochen. Der Aufarbeitung der eigenen Verbandsgeschichte stimmte zwar letztendlich eine Mehrheit zu, doch war diese Zustimmung nach so viel Warnungen vor damit verbundenen Gefahren, gar vor „neuen Lügen“, derart zögerlich erfolgt, daß das Ergebnis dadurch relaitiviert und entwertet wird. Dies gilt umso mehr, als Zusammensetzung und Arbeitsweise der entsprechenden Kommission auf eine Weise unklar blieben, daß durchaus die Möglichkeit besteht, sein Auftrag sollen mit der Zeit in Vergessenheit geraten.

Die These, wonach die Übereinstimmung zwischen „dem Volk“ und „den Intellektuellen“ in der DDR nur vorübergehend war und seit dem 4. November eine Entfremdung stattgefunden hat, als „das Volk“ eine Art Revolution machte, während „die Intellektuellen“ eigentlich nur Reformen wollten, bestätigte sich auf dem Kongreß. Doch wie es scheint, sind auch die Intellektuellen keine homogene Gruppe. Ob die System-Reformer und die System-Veränderer in einem Schriftstellerverband bleiben werden, könnte sich schon bald entscheiden. Christa Wolf sagte ahnungsvoll: „Wir werden künftig nicht mehr mit einer Stimme sprechen.“ Weniger erschreckend als das scheint allerdings die „Einstimmigkeit“ der Vergangenheit, in der so viele keine Stimme hatten. Anna Jonas,

taz vom 5. 3. 1990