All inclusive in der Kita

AUS ESSEN UND KÖLN VON NATALIE WIESMANN

Tobias ist von der neuen Lebensgefährtin seines Vaters genervt: „Entweder sie duscht, oder sie läuft nackt herum“, sagt der Neunjährige und verzieht das Gesicht. „Bäh“ und „Iiih“ rufen die anderen Kinder laut heraus, sie haben dafür auch kein Verständnis. „Sie sollen sich anziehen“, schreibt Jennifer Peters auf die Flipchart-Tafel.

Peters trifft sich einmal in der Woche in der Essener Kita „Blauer Elefant“ mit Trennungs- und Scheidungskindern. Die dürfen sich dann richtig auskotzen. „Seit Papa eine Freundin hat, raucht er wieder Kette und ich kriege Atemprobleme“, sagt die dreizehnjährige Mona und fasst sich demonstrativ an den Brustkorb. In einem anderen Raum sitzt ihre Mutter mit anderen Eltern. Es geht um das gleiche Thema: Darüber, wie sich die neuen Partner verhalten müssen, damit auch die Kinder zufrieden sind.

Das Treffen ist eines der zusätzlichen Angebote, die der Kita des Kinderschutzbundes zum neuen Label „Familienzentrum“ verholfen hat. Der Blaue Elefant ist eine von 251 Einrichtungen in NRW, die vom CDU-Familienministerium als Pilotprojekt ausgewählt wurden. Familienzentren sind Kindertagesstätten, die das Angebot von Beratungsstellen, Ärzten und Sozialpädagogen ins Haus holen. So, erhofft sich die schwarz-gelbe Landesregierung, können Eltern leichter erreicht werden, die mit der Erziehung ihres Nachwuchses überfordert sind. Es ist ein Versuch, Kinderverwahrlosung und -misshandlung vorzubeugen.

Jennifer Peters leitet neben der Gruppe der Trennungskinder auch das „Kinderrechtehaus“ des Blauen Elefanten. Dort können sich Kinder Ratschläge holen. „Und wenn sie es wollen, suche ich auch ihre Eltern auf“, sagt die Sozialpädagogin. Die Kita bietet ein Rund-Um-Paket: Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre werden hier betreut. Den Kleinsten werden Tagesmütter vermittelt, die Ältesten bekommen Hilfe bei Hausaufgaben oder beim Schreiben von Bewerbungen. Auch Ergo- oder Sprachtherapie werden angeboten.

Aber kein Fördern ohne Fordern: Bei der Anmeldung in der Kindertagesstätte müssten sich die Eltern schriftlich verpflichten, das ärztliche Untersuchungsheft ihres Kindes regelmäßig vorzulegen, sagt Silvia Hilbert, stellvertretende Leiterin des Blauen Elefanten. „Da wird auch keine Ausnahme gemacht“, so die zierliche Frau mit den kurzen blonden Haaren, „auch nicht, wenn die Kinder aus besseren Verhältnissen stammen“. Außerdem sind alle Betreuer angehalten, Auffälligkeiten zu melden. Denn die Kita steht auch Modell für ein soziales Frühwarnsystem, das seit ein paar Jahren in NRW erprobt wird. Glücklicherweise komme es nur vier bis fünf Mal im Jahr vor, dass Mitarbeiter das Jugendamt einschalten müssten, sagt Hilbert.

So hilfreich das Angebot des Blauen Elefanten ist: Nur Eltern, die ihre Problemlage bereits reflektiert haben, bringen ihre Kinder dorthin. So genannte Risikofamilien, die mit der Erziehung ihrer Kinder völlig überfordert sind, hat die Kita bisher nicht erreicht. „Die leben oft isoliert von ihrer Umwelt“, sagen die Mitarbeiterinnen.

Solche Familien erreicht das Kölner Frühwarnsystem „FuN“ (Familie und Nachbarschaft) schon eher. An acht Nachmittagen treffen sich sechs Paare mit ihren Kindern in der evangelischen Erlöserkirche im Stadtteil Vingst, einem der sozialen Brennpunkte der Domstadt. Sie sitzen an Familientischen, spielen vorgegebene Spiele und eine Familie kocht für die anderen. Ziel des Projekts ist es, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie zu stärken – und gleichzeitig Kontakte zwischen den Familien aufzubauen. An diesem Nachmittag sollen sich die Familien gemeinsam einen Wunschtag auszudenken. Zur Beratung bekommen sie eine halbe Stunde Zeit. Bei Familie Müller sieht er so aus: Gemütliches Frühstück, Drachensteigen lassen und Schlittschuhlaufen und dann zu Mc Donalds. Nachdem die Mutter das Konzept vorgetragen hat, klatschen die anderen Familien laut. Der Applaus ist Pflicht. „Die bekommen sonst nicht viel Anerkennung, deshalb ist uns das besonders wichtig“, erklärt Kempe.

Bei Daniel und Eva Bauer, die mit ihren vier Kindern da sind, hängt zurzeit der Haussegen schief. Eva geht nach 15-jähriger Arbeitslosigkeit einem Ein-Euro-Job nach, deshalb kümmert sich Daniel um Haushalt und Kinder, von denen drei nicht seine eigenen sind. „Die Große ist mitten in der Pubertät und will sich von mir nichts sagen lassen“, beschwert sich der stämmige Schnauzbart. Dabei findet es der 29-Jährige „völlig normal“, dass auch die Kinder einmal den Staubsauger in die Hand nehmen. „Eva hat früher alles für sie gemacht, ohne zu zicken“, sagt er und wirft seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu. Doch nicht nur die Probleme mit der pubertierenden Tochter belasten die Bauers: Die sechsköpfige Familie lebt von monatlich 1.100 Euro, ist auf Spenden und Lebensmittelausgaben angewiesen. Und deshalb genießen sie es einmal in der Woche aus ihrem Alltag herausgerissen zu werden, frei von Geldsorgen und Hausarbeit miteinander zu reden, gemeinsam zu spielen. „Das ist nicht selbstverständlich“, sagt Leiterin Kempe. „Es wäre schön, wenn sie von dem Kurs etwas mit nach Hause nehmen.“

Das Ziel von FuN ist soziale Vernetzung: Eine Befragung der TeilnehmerInnen hat positive Ergebnisse geliefert. Während am Anfang der Kurse etwa jede siebte Familie überhaupt niemanden in der Nachbarschaft nennen konnte, den sie im Notfall anrufen könnte, sah das nach den Kursen anders aus: „Jede der Familien hatte am Ende mindestens eine Ansprechperson – etwa eine andere Teilnehmerin oder auch die Erzieherin“, sagt die Kölner Pädagogik-Professorin Sigrid Tschöpe-Scheffler, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. Eltern, die selbst gravierende Probleme haben – wie im Fall des drogenabhängigen Vaters von Kevin aus Bremen – könne man zwar so nicht erreichen. Aber es ginge bei FuN auch mehr um Prävention: „Die Familien lernen dort, dass es außer Schreien und Schlagen auch andere Handlungsmöglichkeiten gibt.“