: Geliebtes Fragment
KUNST Ein Patchwork der Sehnsüchte: Bilder und Skulpturen der im Januar verstorbenen Künstlerin Aiga Müller sind in der Galerie Linneborn zu sehen
Scherben bringen Glück? Was für ein Quatsch! Ist das Unglück nicht oft schon da, wenn die nervös wedelnde Hand die Kaffeekanne vom Tisch fegt? Seismografen für Streit und Liebeskummer, das sind Scherben doch viel eher.
Insofern haben die Mosaiken aus zerbrochenem Porzellan, mit denen Aiga Müller die Oberflächen ihrer Skulpturen überzieht, zuerst etwas von Bestürzung, erst dann von Trost und Zuspruch. Sieh mal, reparieren lässt sich das jetzt nicht mehr, der Schaden ist endgültig, aber etwas anderes und Neues lässt sich da durchaus draus machen. So ist der Subtext der Porträtbüsten, der Kissen, Hüte und Schuhe, die sie seit zwanzig Jahren detailreich mit Scherben schmückt: ein dichtes Patchwork aus großblumigen und kleinblumigen Mustern, aus Goldrand und den Torsen winziger Nippesfiguren, aus aufgemalten und aus geformten Dekorfrüchten.
Aiga Müller, geboren 1944, hat in Berlin oft in der Ladengalerie von Caroline Müller ausgestellt, und sie war bei vielen Projekten des Vereins der Berliner Künstlerinnen und der Gedok dabei. Das war in den 80er und 90er Jahren das Umfeld von Künstlerinnen, die sich in gemeinsamen Projekten eigene Plattformen schufen. Im Januar starb die Malerin und Bildhauerin. Die Galerie Linneborn in Pankow ehrt sie nun mit einer Ausstellung, die sie selbst noch mit vorbereitet hat.
Schon bevor die Scherben als Material in ihr Werk einzogen, gab es gemustertes Porzellan in ihren Bildern zu sehen, ebenso wie Ornamente von Tapeten und Stoffen. Viele ihrer Bilder und Objekte erzählten damit von dem Wunsch, sich die Innenwelt auszugestalten – individuell, gepolstert gegen das Außen, liebevoll und detailreich – und von der Fragmentierung der Dinge. Oder anders gesagt: von der Sehnsucht und ihren Bruchstellen. Einerseits mutete das stets nostalgisch an, erst heute kehrt mit dem Vintage Look eine Vorliebe für solche großbürgerlichen Muster wieder; andererseits sah man stets, dass gerade die Brüche, das Unvollständige zur emotionalen Bindung an die Dinge beitrugen. In ihren Bildern wurde jeder Gegenstand zum Platzhalter einer Person, die mit kleinen Extravaganzen versuchte, in mehr geistigen Räumen als nur der schnöden Gegenwart zu Hause zu sein. In ihren Porträtbüsten aus Gips, mit Scherben besetzt, setzte sich das fort, Menschen über ihr Verhältnis zu den Dingen zu beschreiben.
Es waren die 90er Jahre, die Zeit nach der Wende, in denen Aiga Müller auf vielen Deponien im Berliner Umland, teils direkt bei ehemaligen Porzellanfabriken, ihre Scherben fand. Man sah in ihrem Arbeiten auch die reiche Beute einer Sammlerin und Jägerin, die unermüdlich an einer Archäologie des Willens zum Dekor arbeitete. Der Kontext, in dem sie in den 90er Jahren ausstellte, oft in zwischengenutzten Räumen in Ost- und Westberlin, verstärkte die Anmutung des Transitorischen in ihrem Werk.
Hochhackige Schuhe, das sind Objekte, die sie wieder und wieder gestaltete: Ein sehr weiblicher Fetischismus, möchte man meinen. In der Galerie Linneborn steht ein Paar Schuhe der Büste von „Judith“ und dem abgeschlagenen Kopf von „Holofernes“ gegenüber, ein Ensemble von 2006: eine grausame Szene. Sie so hübsch zu dekorieren hat etwas von einem feministischen Augenzwinkern.
KATRIN BETTINA MÜLLER
■ Galerie Linneborn, Parkstr. 7–9 in Berlin-Pankow, Mi.–Fr. 16–19 Uhr, Sa. 11–14 Uhr. Bis 30. April.
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