Moleküle unter der Super-Lupe

„So können die Kleinen mal sehen, wie die Großen das so machen“

AUS ESSEN STEPHANIE KASSING

„Wer vorher nochmal auf‘s Klo muss, flitzt jetzt bitte los.“ Rund 200 Studenten erheben sich hektisch von ihren Klappstühlen im Audimax in Essen und stürmen nach draußen. Die Acht- bis Zwölfjährigen sind wohl etwas nervös vor ihrer ersten Vorlesung. Da lugt auch die eine oder andere Mutter nochmal skeptisch durch die Tür. Dann heißt es allerdings: Eltern müssen draußen bleiben. Die Kinder-Uni kann beginnen. Wie ein Professor empfangen wird, wissen die jungen Besucher auch schon. Lautes Tischklopfen ertönt, als Martin Hölscher das Podium betritt.

„Unser Haus – unsere Stadt: Wohnen im Ruhrgebiet“: Mit diesem Thema begann der Stadt- und Landschaftsplaner vergangenen Mittwoch das Wintersemester der Kinder-Uni in Essen. Auf eine Reise an die besonderen Orte der Region nahm Martin Hölscher seine jungen Zuhörer mit, von den geheimnisvollen Steinblöcken der Himmelstreppe in Gelsenkirchen bis zum Schwimmbad auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei der Zeche Zollverein in Essen.

„Du bist Moleküle“ heißt es heute an der Kinder-Uni. Dann erklärt der Bioinformatiker Daniel Hoffmann, was man mittels einer „Super-Lupe“ alles auf der Haut erkennen kann. Dass sich auch diesmal das Audimax wieder füllen wird, ist sehr wahrscheinlich. „Ich bin schon zum dritten Mal dabei“, erklärt der elfjährige Claus aus Essen. Selbstverständlich will er später einmal studieren: „Sicherheitstechnik“. Die achtjährige Rebecca will eigentlich Friseurin werden. Trotzdem findet sie es „gut“, einmal den Uni-Alltag kennenlernen zu können. Auch die Eltern sind von dem Projekt begeistert: „So können die Kleinen mal sehen, wie die Großen das so machen“, sagt Hans-Peter Hummel, der mit seiner Tochter aus Herne nach Essen gekommen ist.

Da es meistens die Idee der Eltern ist, die Kinder an die Uni zu schicken, drücken einige nicht ganz freiwillig die Hörsaal-Bank. Doch als Martin Hölscher zwölf Assistenten für eine Simulation auf dem Podium des Audimax braucht, schnellen alle Finger in die Höhe. Mit zusammen geknotetem Geschenkband bilden die Kinder drei Rechtecke und demonstrieren damit, wie viel Wohnraum die Menschen in unterschiedlichen Teilen der Erde durchschnittlich besitzen: 68 Quadratmeter in den USA, gerade mal 28 in Portugal. Das 41 Quadratmeter große Deutschland ist etwas zu groß, um auch auf das Podium zu passen und wird kurzerhand von den USA geschluckt.

Martin Hölschers Vorlesung über das Wohnen im Ruhrgebiet war seine erste Performance vor so jungem und großem Publikum. „Normalerweise sitzen in meinen Veranstaltungen maximal 70 Studenten“, sagt der Experte für Stadt- und Regionalentwicklung. „In so einem großen Saal und bei dem Geräuschpegel, das ist gar nicht so einfach.“ Trotzdem war er sofort von der Idee begeistert. „Es ist wichtig, dass die Uni in die Gesellschaft hinein wirkt und der Elfenbeinturm sich langsam auflöst“, so der 46-Jährige. Dass es allerdings gar nicht so einfach ist, Uni kindgerecht zu gestalten, merkte der Professor schnell: „Das schwierigste ist, vom Fachvokabular runter zu kommen“. Tatkräftige Unterstützung erhielt der Familienvater von zu Hause. Seine elfjährige Tochter erklärte ihm, welche Fakten für Kinderohren langweilig klingen.

Seit Januar 2004 bietet die Universität Duisburg-Essen die Kinder-Uni an. Dieses Jahr erstmals auch mit Veranstaltungen in Duisburg. Das Projekt sei besonders für das Ruhrgebiet interessant, sagt Organisatorin Sabine Zix: „Die Bildungsoption Uni ist hier nicht so traditionell verankert wie in anderen Städten Deutschlands. Mit der Kinder-Uni leisten wir einen wichtigen Beitrag, Kinder früh anzusprechen.“ Natürlich nicht ganz uneigennützig. In einer Situation, in der sich der Wettbewerb zwischen den Universitäten zunehmend verstärke, sei dies besonders wichtig, so Zix.

Sechs Kinder-Unis laufen zur Zeit in Nordrhein-Westfalen: in Münster, Bielefeld, Duisburg-Essen, Köln, Bonn und Iserlohn. Mehr als vierzig gibt es deutschlandweit. Was 2002 als Gemeinschaftsprojekt der Uni Tübingen und einer Lokalzeitung begann, entwickelte sich zu einem Boom bis über die Grenzen Deutschlands hinweg. Auch die Hörsäle von Universitäten in Österreich, der Schweiz und Italien füllen sich regelmäßig mit neugierigen Kinderscharen. Die akademische Wissensvermittlung macht Spaß. Auch dem achtjährigen Timo. „Für ihn ist das reine Freizeitgestaltung“, sagt Mutter Susanne Spors.

Das zeigt auch eine Begleitstudie der Uni Tübingen. Danach ist neben dem Interesse an Themen –und dem Wunsch etwas zu Lernen – der Spaß einer der Hauptgründe für die Teilnahme an den Vorträgen. Die Studie zeigt außerdem, dass die Vorlesungen den Kindern Unbekanntes zugänglich machen, etwa die Neugier für Fächer wie Archäologie, Astronomie oder Philosophie wecken. „Im Alter von acht bis zwölf Jahren sind die Kinder noch besonders ansprechbar für neue Ideen“, sagt auch Sabine Zix.

Durch ihren Erfolg hat sich die Kinder-Uni mittlerweile zu einer Institution entwickelt. 2004 fand in Hamburg erstmals ein bundesweites Kinder-Uni-Koordinierungstreffen statt, um Erfahrungen auszutauschen und Know-How weiterzugeben.

Die Uni-Kids in Essen sind inzwischen damit beschäftigt, sich ihren Stempel für den Kinder-Studentenausweis abzuholen. Wer am Ende des Semesters alle sechs Veranstaltungen in Essen und Duisburg besucht hat, dem winkt zur Belohnung ein T-Shirt. Das will sich auch Claus nicht entgehen lassen: „Ich bin nächste Woche auf jeden Fall wieder mit dabei.“