GISELA TUCHTENHAGEN, DOKUMENTARFILMERIN
: Die Freipisserin

■ 67, ist Kamerafrau, Autorin und Cutterin. Die Dokumentarfilmwoche Hamburg widmet ihr nächste Woche eine Retrospektive.

In den 70er Jahren war sie eine der ersten Frauen in Deutschland hinter der Kamera. Zwei Mal gewann sie den Adolf-Grimme-Preis. Auch heute noch dreht sie viel gelobte Dokumentarfilme, mit 67 Jahren. „Ach, das wird doch alles nur übertrieben. Ich mache nichts weiter als meine Arbeit“, sagt Gisela Tuchtenhagen.

Ihre Biografie liest sich wie ein Drehbuch: Geboren 1943 im, damals deutschen, Köslin, aufgewachsen bei Heide in Schleswig-Holstein. Als der Vater nach dem Krieg zurückkam, wurde sie „aufmüpfig“, wie sie sagt – sie flog von der Schule, brach eine Lehre ab, die Mutter steckte sie in ein Erziehungsheim. Immer wieder riss Tuchtenhagen aus, bis sie sich ein Jahr später allein in den Zug nach Paris setzte. Da war sie 15 Jahre alt. „Ich bekam sofort Kontakt zu Filmleuten, über diese Zeit könnte ich Romane erzählen.“ Sie blieb drei Jahre.

1966 ging sie nach Berlin, um sich an der Lette-Schule zur Fotografin ausbilden zu lassen. „Ohne je ein Foto geschossen zu haben“, sagt sie. Sie klingt dabei nicht großspurig, eher mädchenhaft, sie lacht, fast entschuldigend, als wäre alles in ihrem Leben dem Zufall geschuldet. Von der Fotografie sei es nur ein kleiner Schritt zur Kamera gewesen: Sie gehörte zum zweiten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin – ohne Abitur und Hochschulstudium, damals eigentlich noch Voraussetzung.

Dokumentarfilme wollte Tuchtenhagen, die heute in Hamburg lebt, nie drehen. „Ich dachte, das ist was total Langweiliges.“ Dann begegnete sie ihrem Dozenten Klaus Wildenhahn – und wollte „dem Geheimnis seiner Arbeit auf die Spur kommen“. Mit ihm drehte sie die meisten ihrer Filme, darunter „Emden geht nach USA“ über ein von der Schließung bedrohtes VW-Werk. Sie lernte von ihm, wie man sich in der Drehsituation zurücknimmt, wie man beobachtet, ohne zu interpretieren, sagt sie. Ihr Zyklus „Heimkinder“ gewann zwei Preise.

Dabei hatte man ihr eigentlich von diesem Männerberuf abgeraten. Es hieß, Kameraleute müssten manchmal auch im Freien pinkeln. „Am Pissen soll’s nicht scheitern“, schrieb Tuchtenhagen für die Emma. EMS