Neuland Nordargentinien

FREMDHEITSERFAHRUNG Thomas Heise begleitete eine indigene Gesellschaft. Sein Dokumentarfilm „Sonnensystem“ hatte Premiere in der Volksbühne

Statt eine Tür zur Welt zu öffnen, die die Indigenas mit uns teilen, versperrt Heise diesen Zugang absichtsvoll

Argentinien ist eines der wenigen Länder Lateinamerikas, in denen der Anteil der indigenen Bevölkerung gering ist. Wer nach Buenos Aires reist, begegnet Menschen mit baskischem, galizischem, libanesischem, polnischen oder italienischem Hintergrund; wer hier indigener Herkunft ist, ist meist aus Peru oder Bolivien eingewandert. Im Norden des Landes sieht das anders aus. In den Provinzen Salta oder Jujuy, nah an der Grenze zu Bolivien, ist der Anteil der Indígenas deutlich höher, zaghaft artikuliert sich dort ein neues Selbstbewusstsein, während der Rassismus unter europäischstämmigen Salteños erschreckende Ausmaße kennt.

Thomas Heise hat sich in seinem bisherigen Filmschaffen wieder und wieder mit dem Osten Deutschlands beschäftigt. Frei von Vorurteilen hat er seinen Blick auf Verhältnisse gelenkt, die kaum jemand aus der Nähe anschaut, namentlich auf die Lebenswelt junger Rechter in Sachsen-Anhalt. Filme wie „Stau“, „Neustadt“ und „Kinder wie die Zeit vergeht“ legen davon Zeugnis ab und haben Heise viel Ärger eingehandelt, weil er lieber beobachtet, statt sich auf ideologisch einwandfreiem Terrain zu bewegen. Auf Einladung des Goethe-Instituts von Buenos Aires ist er nun in den Norden Argentiniens gereist und hat dort eine indigene Gemeinschaft begleitet – Neuland nicht nur in geografischer Hinsicht. Das Ergebnis, „Sonnensystem“, hatte am Donnerstagabend in der Volksbühne Premiere.

Die Kollas, die Protagonisten des Films, betreiben Almwirtschaft. Den Winter verbringen sie sie in einem Ort im Tal, den Sommer in den Bergen, 3.000 Meter über dem Meeresspiegel. Die drei Kameraleute Robert Nickolaus, Jutta Tränkle und René Frölke können sich an der Landschaft gar nicht sattsehen, am Grün der Wälder und Weiden in allen seinen Schattierungen; am Kopf eines Rappen vor azurblauem Himmel; an Nebelschwaden, die die steilen Hänge hinaufkriechen; an Sonnenauf- und untergängen; an Ameisen, die emsig Blattfragmente transportieren, obwohl diese Fragmente 50-mal so groß wie sie selbst sind. „Sonnensystem“ verbringt viel Zeit mit der Naturbeobachtung und entwickelt dabei eine Vorliebe für die Totale. Die Menschen und Tiere sind oft nur als Punkte im Bild zu sehen; weit weg vom Standpunkt des Betrachters bewegen sie sich. Wenn die Kollas sprechen, wird dies nicht übersetzt. Die Aufnahmequalität ist absichtlich so schlecht gehalten, dass selbst der, der des Spanischen mächtig ist, nicht immer mit Sicherheit zu sagen weiß, ob sie gerade Spanisch oder Quechua reden.

Dass man die Protagonisten nicht verstehen kann, markiert die Ambivalenz des Films. Zum einen gibt Heise dadurch erst gar nicht vor, er begreife und durchdringe die ihm fremde Welt. „Sonnensystem“ behauptet in keiner Szene, über die Kollas Bescheid zu wissen. Zum anderen aber macht der Film die Fremdheit durch die Abwesenheit intelligibler Sprache größer. „Stau“ und die anderen Arbeiten Heises brachten einem die fremden sachsen-anhaltinischen Verhältnisse nahe, während „Sonnensystem“, statt uns eine Tür zu der Welt zu öffnen, die die Indigenas mit uns teilen, diesen Zugang wie absichtsvoll versperrt. Das wiederum eröffnet zwar den Raum für die Wahrnehmung des Nichtsprachlichen – etwa für die versteckte Kongruenz zwischen einem auf dem Boden liegenden Traktor und den ebenfalls auf dem Boden liegenden Rindern, verwehrt den Indígenas aber auch den von uns so selbstverständlich eingenommenen Subjektstatus.

In den 70er Jahren verfolgten viele linke Intellektuelle Lateinamerikas das Ideal, Sprachrohr der Unterdrückten zu werden, indem sie ihre Stimme den Indígenas liehen. Mit „Sonnensystem“ dreht Heise diesem in die Jahre gekommenen Ideal eine Nase. Die Spur der Kollas, so deutet es die Requiem-artige Abschlusssequenz an, verliert sich derweil in den Slums von Buenos Aires. CRISTINA NORD