Das Eigentliche und Gurkengläser

„Das Zebra hat schwarze Streifen …“: Johanna Straub erzählt einen Familienroman

Ein werdender Vater sitzt im Wartezimmer. Er kämpft gegen den Impuls an, einfach wegzufahren. Angst befällt ihn, Angst vor dem Muster „ein Kind, zwei Zimmer, Examen, zwei Kinder, drei Zimmer, Festanstellung, drei Kinder, vier Zimmer, Karriere machen“.

Wie wäre es, nach Süden zu fahren und auf einen Zettel zu schreiben: „Such nicht nach mir. In Liebe – B.“? Der Mann bleibt sitzen, erinnert sich daran, wie er seine Frau getroffen hat, an „das Kreuzverhör über Donauwellen“ bei den Schwiegereltern in der Provinz. Dann ruft die Hebamme – und der Roman bewegt sich weiter.

Um das Neugeborene, Philippa, dreht sich Johanna Straubs Debüt „Das Zebra hat schwarze Streifen, damit man die weißen besser sieht“ – hinter dem exotischen Titel verbirgt sich schlicht ein Familienroman. Die in Berlin lebende Autorin, 1970 geboren, erzählt Philippas Geschichte aus zwölf unterschiedlichen Perspektiven. In jedem Kapitel springt sie ein Stück weiter in der Zeit, taucht direkt in den Bewusstseinsstrom einer Figur ein und lässt den Leser selbst herausfinden, wer gerade spricht und handelt.

In der zweiten Einstellung erzählt die Großmutter. Sie ist angereist, um ihre Enkel zu hüten – Philippas Eltern leben bereits getrennt –, und wie es in solchen Situationen so ist, haben Mutter und Tochter unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung. Jedes Gespräch wird zur Gratwanderung. Anstatt über das Eigentliche spricht man über Gurkengläser. Den Ton solcher Minidramen, der Kabbeleien zwischen Küchentisch und Kinderzimmer, trifft Joanna Straub sehr genau. Betont alltagsnah, manchmal an der Grenze zum Banalen, beobachtet sie die Feinmechanik der familiären Kommunikation.

Konsequent sucht sie das Wesentliche im Nebensächlichen, und sogar die Hauptfigur bleibt an der Peripherie. „Was geradeaus ist, muss man sich aus rechts und links zusammendenken“, stellt Philippas Halbbruder fest, als er die Familie bei einer Geburtstagsfeier durch ein Prisma betrachtet. Der Blick durch das optische Spielzeug hat einen ähnlichen Effekt wie das Erzählverfahren der Autorin, die lauter Bruchstücke eines Lebenslaufs um ein nicht vorhandenes Zentrum kreisen lässt.

In jeder Momentaufnahme von Philippas Stationen, immer aus den Augen anderer Figuren gesehen, spiegelt sich ein Stück Alltagsgeschichte. Die Achtzigerjahre prägen die Schulzeit; die Sorge, ob die Jeans eng genug sei, wiegt schwerer als die Frage, ob der Regen wegen Tschernobyl verstrahlt ist. Die Neunziger sprechen aus dem Bericht ihres ersten Freundes, mit dem sie im wiedervereinten Berlin über die Zukunft diskutiert. Zivildienst leisten, studieren oder nach Kanada reisen? Welcher der vielen möglichen Lebensentwürfe ist der richtige?

So langsam steigt die Erwartung, dass das Gedankenspiel um Möglichkeiten irgendwohin führt, doch nach 200 Seiten schlägt sich auch Philippas Enkelin noch mit dieser Frage herum. „Das Leben ist wie ein Gang mit lauter Türen, und ich kann mir aussuchen, durch welche ich gehe. Egal, welche ich wähle, hinter den anderen ist auch etwas“, denkt sie in den fingierten Dreißigerjahren des 21. Jahrhunderts. Solche Reflexionen wirken auch in der Figurenperspektive hölzern, und nun geht der Roman leider zur Kalenderblatt-Philosophie über: „Es muss dunkel werden, damit es wieder heller werden kann. Das Zebra muss schwarze Streifen haben, damit man die weißen besser sehen kann.“ Dass die Titelthese zum Schluss auf der philosophischen Ebene eines Kinderbuchs erklärt wird, enttäuscht leider. Der entscheidende Dreh zum Schluss bleibt aus. Man wird mit der versöhnlichen Erkenntnis entlassen, dass Wahrheiten relativ und Familien projekthaft bleiben. Nun ja. Sagen wir es so: Der schöne Anfang dieses Romans hatte mehr versprochen. Aber er bleibt schön. IRENE GRÜTER

Johanna Straub: „Das Zebra hat schwarze Streifen, damit man die weißen besser sieht“. Libeskind Verlag, München 2007, 205 Seiten, 16,90 Euro