„Ich mache hier meinen Traumjob“

Ilona Paschke leitet die „Titanic“-Reisebüros. Was als linksalternativer Laden in Kreuzberg begann, ist heute der letzte mittelständische Anbieter in Berlin

… heute ist „Titanic Reisen“ eine Firma mit Chefin, aber auch mit Prinzipien

VON ULRIKE HEMPEL

Im Großraumbüro klemmt die Frühjahrsmüdigkeit zwischen den Schreibtischen. Die Leute beugen sich über Kaffeetassen und Telefonhörer. Sortieren sich ein irgendwo ein zwischen Morgen und März in Berlin.

Ilona Paschke steht mittendrin. Ihr Büro wäre eigentlich im fünften Stock, in der Führungsetage, aber sie hat gern viel Bewegung um sich. Deshalb ist ihr Arbeitsplatz unten im ersten Stock, erklärt die Geschäftsführerin von „Titanic Reisen/FlightOne Reiseservice“, zuständig für insgesamt 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und zieht dabei den Nuckel ihrer zweijährigen Tochter aus der Jeansrockasche. Den hat sie aus Versehen mitgenommen, aber „mein Mann kommt gleich mit seinem Taxi vorbei. Ohne Nuckel geht bei Lilli gar nichts.“

Vom Nieselregen kringelt sich ihr schulterlanges blondes Haar eigenwillig nach außen. Die braunen Augen werden von schweren Lidern umrandet. Mit einer beherzten Geste streicht sie die schlaflose Nacht wegen Lillis Husten aus dem Gesicht. Alles signalisiert an ihr, dass sie jetzt da und ansprechbar ist. Ihr „Morgen, Mädels!“, tönt bis in die Kochnische, ihr Absatzklacken überallhin.

Wenn Ilona Paschke in der Firma auf Empfang geschaltet hat, gibt es keine verschränkten Hände vor dem Bauch und kein nervöses Handygefummel. „Geh doch zu Ilona!“, sagen die Verwandten und Bekannten ihrer angeheirateten kurdischen Familie, wenn es irgendwo mal hapert.

Die 43-Jährige gilt als durchsetzungsfähiges Organisationstalent, im Privat- und im Berufsleben. In der linken Berliner Szene ist sie vor allem durch ihre Solidaritätsarbeit für Lateinamerika und durch den persönlichen Kontakt am Counter im alternativen „Titanic“-Reisebüro bekannt. Lieber würde sie Geleebonbons verkaufen oder einen Obst- und Gemüsestand am Laufen halten, als jemals ohne Team und ohne Arbeit zu sein.

Obwohl ihr das Studium in Linguistik, Publizistik, Politik und ihre Lateinamerikaaufenthalte den Weg in andere Branchen ermöglicht hätten, wusste Paschke relativ früh, dass ihr Einsatz nur mit Überzeugung zu haben ist – ohne sich den autoritären und bürokratischen Strukturen öffentlicher Institutionen unterordnen zu müssen. „Ich bin keine Frau des Protokolls und vielleicht gerade deshalb seit 1993 alleinige Geschäftsführerin von ‚Titanic Reisen‘.“

Seit August 2006 ist sie auch Geschäftsführerin der Firma „FlightOne“, einem Call- und Servicecenter für Online-Buchungen. Bei dem Wort Führungsposition müsse sie immer lachen. „Ich selber siedle das nicht so hoch an, aber für Leute mit konventionellem Hintergrund ist das schon richtig was“, erzählt Paschke belustigt.

Gleichzeitig hebt sie stolz hervor, dass die 45 Arbeitsplätze für die „Titanic“-Mitarbeiter sie und ihre fünf anderen Kollektivmitbegründer geschaffen haben.

Aus einem einzigen Laden, in der Oppelner Straße im Kreuzberger Wrangelkiez 1988 gegründet, entwickelte sich innerhalb weniger Jahre die alternative Reisebürokette „Titanic“. Es entstanden daraus 10 Filialen in Berlin, eine in Bonn und ein professioneller Internetauftritt mit der Möglichkeit zur Onlinebuchung.

Paschke gerät ins Schwärmen, wenn sie feststellt: „Das haben wir zu sechst alles ohne jeden Bankkredit, dafür mit hemmungsloser Selbstausbeutung und einem sogenannten Einheitslohn bis 1996 geschafft. Ist doch irre, oder?“ Sie sei damals nach einem Praktikum einfach hängen geblieben, beschreibt sie ihren Einstieg ins Kollektiv.

Die Gründungsmitglieder sind alles Quereinsteiger: Rainer Klee ist gelernter Speditionskaufmann, Petra Wybieralski studierte Germanistin. Sie hatten Erfahrungen in ihren jeweiligen Ausbildungsrichtungen, in der Lateinamerika-Solidaritätsarbeit, in der Organisation von Arbeitsbrigaden nach Nicaragua und im Vertrieb der legendären „Sandino Dröhnung“ – Kaffeeimport aus Nicaragua. Irgendwann kam die Idee auf, auch Flugtickets im eigenen Laden zu verkaufen.

„Ich würde sagen, die Geschäftsführung ist mein Traumjob“, sagt sie, und es klingt so selbstverständlich, wenn sie hinzufügt: „Die Arbeit passt einfach zu mir, denn meine Stärken liegen im Management und in der Personalführung. Ich achte bei den Leuten auf ihre Stärken, integriere aber auch ihre Schwächen.“ Macht haben heißt für sie vor allem, Sachen zu verändern und dabei sozialkompetent und verantwortlich zu handeln.

Eine wichtige Erfolgsstrategie hat Ilona Paschke schon als Mädchen gelernt. Fast könnte man glauben, die Namensidee für die Reisebürokette „Titanic“ käme von ihr. Mit neun Jahren begann sie zu rudern, war viele Jahre Leistungssportlerin und trainierte in der Jugendnationalmannschaft. Ehrgeizig sein und weiterkommen, das galt früher im Sport und gilt heute in der Firma. Das Wettkampfziel heißt bis dato „gewinnen“, mit der Unterstützung des Teams und des Trainers.

„Ich bin beim Rudern Einer gefahren, Vierer und Achter. Ich verliere und gewinne lieber mit anderen zusammen. Mir geht’s bei „Titanic“ vor allem um Kooperation und nicht um Isolation, aber mein Gewinnsystem hat klare sportliche Kriterien: besser, schneller, professioneller.“

Der Zerfall des Kollektivs 1991 war eine schmerzliche Angelegenheit. Das Ende vom Kollektiv waren feste Arbeitsverträge und der Anfang von „Titanic“ als einer normalen Firma mit Angestellten, in gemeinschaftlichem Besitz und hierarchischen Strukturen – wenn auch sehr flachen.

Ilona Paschke erinnert sich an die „Zeit, in der ich vom Kollektivmitglied zur Chefin werden musste. Das war hart.“

Es galt nicht mehr das „Wir-sind-alle-eins-Gefühl, sondern ich musste Entscheidungen treffen, durchsetzen und dann die Verantwortung übernehmen, wenn es schiefgeht“.

Sie sagt, sie habe sich anfangs ausgeschlossen gefühlt, wenn die Mitarbeiterinnen noch zusammen essen gegangen sind und sie als Chefin nicht gefragt wurde. Das grenzte für sie damals an persönliche Bedrohung. Inzwischen füllt sie ihre Führungsposition souverän aus und freut sich über jede Eigeninitiative der Belegschaft, weil Zusammenhalt gut für das Arbeitsklima ist.

Niederlagen gehören für sie zum Erfolg dazu. Sie hat gelernt, wie beim Rudern zu sagen: Wieder aufrappeln und weitermachen! „Wenn ich doch mal fast verzweifle, gehe ich in den fünften Stock und frage höflich, ob ich mich aus dem Fenster stürzen darf.“

Beruflich stellt sich Zufriedenheit langfristig nur ein, weil Paschke genau weiß, warum sie in dieser Firma, in dieser Führungsposition ist und was sie damit für sich und andere erreichen will. Die Reisebranche wird schon seit vielen Jahren totgesagt. „Titanic“ gibt es trotzdem noch.

Begonnen hat es zu sechst, ohne jeden Bankkredit und selbstausbeuterisch …

Natürlich könne man auch eine persönliche Bilanz ziehen, fasst Ilona zusammen: „Unsere Firma bezieht ihren Strom bei ‚LichtBlick‘. Wir trinken fair gehandelten Kaffee, machen konsequent Mülltrennung und bilden allein bei „Titanic Reisen“ sechs Azubis aus. Wir haben das Reisebüro ‚Kopfbahnhof‘, das auf den Verkauf von Bahntickets spezialisiert ist, und arbeiten seit zwei Jahren eng mit ‚atmosfair‘ zusammen.“

Das Prinzip der CO2-Ausgleichs-Agentur „atmosfair“ ist, dass man für jeden Flug eine berechnete Summe spendet, von der 80 Prozent in Klimaschutzprojekte fließen. Aber egal wie man es dreht und wendet, hinsichtlich des Klimawandels ist und bleibt Fliegen – so wie „atmosfair“ sagt – nur die zweitbeste Lösung.

Klimaneutrales Fliegen gibt es nicht. „Immerhin bescheinigt uns ‚atmosfair‘, dass die ‚Titanic‘-Kunden am häufigsten für den CO2-Ausgleich bezahlen.“

Ilona Paschke träumt nicht mehr von einem Berlin, das mit „Titanic“-Filialen übersät ist. Das wäre unrealistisch. Aber sie wünscht sich, dass „Titanic“ als letzte mittelständische Reisebürokette, die unabhängig arbeitet und auf eine eigene linksalternative Geschichte zurückblicken kann, erhalten bleibt. Dafür engagiert sie sich jeden Tag, „denn die Leute honorieren unser Konzept, indem sie bei uns buchen“.

Früher hat sie gedacht, sie könne sich mit 50 zur Ruhe setzen. Heute fragt sie sich, was Reichsein heißt: „Reich an Geld oder woran? Überhaupt Arbeit zu haben, ist schon wertvoll.“ Ihr kurdischer Mann verbinde den Begriff Arbeit nicht mit persönlicher Sinnerfüllung und intellektueller Herausforderung. „Im kurdischen Denken ist Arbeit das, was die ganze Familie ernährt. Dabei geht es aber auch um Geselligkeit und gegenseitiges Helfen.“

In ihrer Familie gibt es immer einen Cousin, der gerade mal pleite ist, oder eine Cousine, die Unterstützung bei bürokratischen Gängen braucht. Eine kurdische Hochzeit im engsten Kreis findet nie unter sechshundert Personen statt. Meistens gibt ihr das Zusammenleben zweier Nationalitäten die Kraft zum Weiterkämpfen.

Nur manchmal werden die Gelassenheit und ihr Familiensinn auf die Probe gestellt. Vorgestern habe sie den Vorschlag gemacht, dass die Tochter doch nun im eigenen Bett schlafen könne. Ihr Mann erwiderte sanft schmunzelnd: „Du kalte, deutsche Frau. Schau doch, sie ist noch so klein und schläft wie ein Engel!“

Auch Ilona, die durchsetzungsstarke Karrierefrau, kommt da an ihre Grenzen. „Kuscheliges, kurdisches Familienbett“, kommentiert Ilona Paschke, ein volles Lachen hervorrollend und fügt hinzu: „Nur deshalb bin ich heute auch so müde.“