U-BAHN-MUSIK
: Oh, Champs-Élysées!

Ich ging allein durch diese Stadt

Kaum saß ich in der U 5 Richtung Alex, es war kurz vor 11 Uhr, freute ich mich. Wenige Meter von mir entfernt erklang „Oh, Champs-Élysées“. Als ich das Lied mit 15, 16 Jahren in der Leipziger Tieflandsbucht auf dem Klavier spielte, träumte ich davon, die Pariser Prachtmeile entlang zu spazieren. Nun sang ein junger Südländer, begleitet von einem Verstärker, eben dieses Lied. „Ich ging allein durch diese Stadt, die allerhand zu bieten hat, da sah ich dich vorübergehen und sagte: Bonjour!“ Ich war sicher, der Tag könne nur ein guter werden, wippte mit dem Fuß und bewegte die Lippen zum Text.

Neben mir saß ein Mann mit einer Flasche Bier. „Scheiß Musik!“, schimpfte er. Ich schaute ihn empört an. „Hören Sie mal, das ist ein wunderschönes Lied!“ Er warf mir einen sehr skeptischen Blick zu und nahm einen Schluck. „Und der Musiker! Dit sind doch allet Albaner oder so.“ Ich sah ihn erneut strafend an und sagte, er solle endlich aufhören zu meckern und sich an dem Lied erfreuen. „Ich ging mit dir in ein Café, wo ich erfuhr, du heißt René. Wenn ich an diese Stunde denke, singe ich nur: Oh, Champs-Élysées, oh, Champs-Élysées. Sonne scheint, Regen rinnt! Ganz egal, wir beide sind so froh, wenn wir uns wiedersehn! Oh Champs-Élysées!“ Hach. Wenige Tage zuvor hatte ich einer Freundin, die Klavier spielen lernt, die Noten kopiert und geschickt. Und nun stänkerte dieser Ignorant neben mir herum. Ich wollte noch weiter die Champs-Élysées entlang spazieren, packte die taz aus und begann zu lesen – einen Artikel, den ich geschrieben hatte. Ein Porträt über Herrn Ehrholdt, der im Sommer 2004 die Montagsdemos gegen Hartz IV organisiert hatte. Die Hartz-IV-Bierflasche steckte seine Nase in die Zeitung: „Wer is’n dit?“ „Der hat Demos gegen Hartz IV organisiert.“ Auch das interessierte ihn nur mäßig. „Das habe ich geschrieben“, sagte ich. Da war er baff und hielt die Klappe. BARBARA BOLLWAHN