Ein Fluss verlässt sein Betonbett

Der Umbau der Emscherregion begann in den 1990er Jahren. Der 84 Kilometer lange Fluss soll bis zum Jahr 2025 ein neues Gesicht bekommen. Zwischen der Quelle in Holzwickede und der Mündung in Dinslaken sollen 40 Kilometer Gewässer der Emscher und ihrer Zuflüsse „naturnah“ umgebaut werden. Der zum Abwasserkanal umfunktionierte Fluss soll dazu bereinigt werden. Industrieabfälle und Abwässer werden in ein neues, unterirdisches Kanalsystem geleitet, das auf 170 Kilometern entstehen soll. Größtes Projekt ist der 51 Kilometer lange Emscherkanal zwischen Dortmund, Deusen und Dinslaken. HOP

VON DER EMSCHER HOLGER PAULER

Die Emscher hat kein gutes Image: Kloake, Abwasserkanal oder Drecksbach. Der Fluss, der das nördliche Ruhrgebiet durchfließt, hatte wie kein anderer unter der Schwerindustrie zu leiden – bis heute sind die Spuren unübersehbar. Das geradlinige Flussbett ist zum großen Teil einbetoniert, die Farbe des Wassers ist weit entfernt vom Meeresblau, und ehe die Emscher bei Dinslaken in den Rhein darf, muss sie sich in drei riesigen Kläranlagen einer Radikalkur unterziehen. „Die Region musste in den vergangenen 100 Jahren ganz schön leiden“, sagt Silke Wilts von der Emschergenossenschaft – dem Unternehmen, dass sich seit 1899 um Fluss und Anwohner kümmert.

Es riecht leicht modrig. „Es stinkt nicht mehr so wie früher. Im Sommer an heißen Tagen riecht man die Emscher aber schon noch“, sagt Wilts. Zum Glück regnet es in diesem Frühjahr in schöner Regelmäßigkeit. Ein guter Tag um der Emscher im Pumpwerk Gelsenkirchen-Horst auf den Grund zu gehen. Und obwohl es regnet, ist der Zulauf heute ruhig. „Nieselregen zählen wir zum Trockenwetter“, sagt Hagen Obermeier, Herr über 55 Pumpwerke in der mittleren Emscherregion zwischen Gelsenkirchen und Bottrop. Die Pumpen arbeiten auf niedrigem Level, rauschen und quietschen leise. „Keine Angst, die Anlagen werden heute nicht mehr voll anlaufen“, sagt Obermeier. Eine Unterhaltung sei bei Hochbetrieb nicht möglich.

Das Pumpwerk wurde im Jahr 1958 in unmittelbarer Nachbarschaft der mittlerweile stillgelegten Zeche Nordstern in Betrieb genommen. Zur Bundesgartenschau 1997 bekam der sanierungsbedürftige viereckige Bau eine himmelblaue Glasverkleidung – ein angenehmer Kontrast zum grauen, einbetonierten Fluss.

Gelsenkirchen-Horst gehört zu den größeren Anlagen im mittleren Emscher-Gebiet. Bis zu elf Kubikmeter, 11.000 Liter oder 100 Badewannenfüllungen können hier pro Sekunde durchgepumpt werden. Die Rohre sind anderthalb Meter dick und ragen 15 Meter in die Tiefe, wo sie an vier Pumpen angeschlossen sind. Kompakt und massiv.

Die Pumpwerke wurden zur Entwässerung der Polderflächen gebaut, die durch den Kohleabbau in der Emscher-Lippe-Region entstanden waren. Mehr als 160 Anlagen sorgen dafür, dass sich das nördliche Ruhrgebiet nicht in eine viele hundert Quadratkilometer große Seenlandschaft verwandelt. Schade eigentlich.

„Die Welt würde sich darüber freuen, wenn es gelänge, Grubenwasser nicht länger abpumpen zu müssen“, sagte der SPD-Politiker und ehemalige Landesminister für Landes- und Stadtentwicklung Christoph Zöpel kürzlich zur taz. „Warum sollte man also nicht an bestimmten Stellen, wo Menschen nicht verdrängt werden, Seen anlegen?“

Hagen Obermeier kann über derartige Überlegungen nur müde lächeln. „Wir können und wir werden auch in Zukunft keine Pumpen abstellen“, sagt er bestimmt. Alles andere sei nicht zu verantworten. Knapp 37 Prozent des 865 Quadratkilometer großen Emschergebiets müssen permanent entwässert werden. An starken Regentagen sind dreiviertel der Pumpwerke in Betrieb.

„Wir können und werden auch in Zukunft keine Pumpen abstellen“

Wenn alle Pumpen der Emschergenossenschaft unter Volldampf arbeiten würden, könnten 800.000 Liter Wasser pro Sekunde durch die Rohre geleitet werden. „Damit könnte man pro Sekunde 8.000 Badewannen füllen“, sagt Obermeier. Pro Jahr werden 600 Milliarden Liter durch die 160 Anlagen gepumpt. Der Essener Baldeneysee könnte mit dieser Menge 70 mal gefüllt werden.

Normalerweise sind die 55 Pumpwerke der mittleren Region unbesetzt. Die Überwachung läuft von einem zentralen Punkt aus. 30 mobile Mitarbeiter kümmern sich um den Betriebsablauf. Maximal 1,5 Stunden pro Tag sind für jedes Pumpwerk vorgesehen. „Wir haben alles im Blick“, sagt Obermeier. Zu Hause könne er von seinem Privat-PC die Lage sondieren. „Und bei Regenwetter kann ich eh nicht schlafen“, lacht er. Und wenn doch mal was passiert? „Wartung und Steuerung werden so sorgfältig geprüft, dass die Pumpen nicht einfach ausfallen können.“ Sollten sie auch nicht.

Auch nicht, wenn im Jahr 2018 die letzte Zeche schließt. Aktuell sind in der Emscher-Lippe-Region noch sieben Bergwerke in Betrieb. Es waren mal mehrere 100. Vor allem die Bergsenkungen haben die Anwohner beeinträchtigt. Nicht nur, dass das Grundwasser immer weiter anstieg und seitdem mühsam mit Pumpen in die Emscher umgeleitet werden muss, auch die Entwässerung, beziehungsweis die Entsorgung des Abwassers wurde zum Problem. Wegen der Bergschäden war es nicht möglich, eine unterirdische Abwasserleitung zu bauen. Aus eben diesem Grund wird die Emscher seit mehr als hundert Jahren als überirdischer Abwasserkanal missbraucht. „Die unterirdischen Rohre wären auf Dauer zerstört worden“, sagt Mechthild Semrau. Die Diplom-Ingenieurin ist bei der Emschergenossenschaft für die Gewässerentwicklung und Landschaftspflege zuständig.

Seit Anfang der 1990er Jahre läuft nun der Umbau des Emschersystems. Der Fluss und seine Zuläufe sollen „naturnah umgestaltet“ werden. Dazu werden 170 Kilometer unterirdische Kanäle verlegt – was nun möglich ist, nachdem die meisten Zechen bereits dicht gemacht wurden. Zwischen Dortmund-Deusen und Dinslaken entsteht der 51 Kilometer lange Emscherkanal, der die Abwässer der ansässigen Industrie und der rund 2,4 Millionen Bewohner der Emscher-Region aufnehmen soll. Der Kanal wird in einer Tiefe zwischen acht und 40 Metern verlaufen. „Der Fluss wird es uns danken“, hofft Emscher-Sprecherin Silke Wilts.

Ein Teil des Emscheroberlaufs ist bereits umgebaut. Der Schwerpunkt der Arbeiten liegt nun auf den Zuflüssen. Der Deininghauser Bach in Castrop-Rauxel ist eines der Pilotprojekte der Internationalen Bauausstellung Emscherpark. In den 1920er und 1930er Jahren war der Bach zum offenen Abwasserkanal umgebaut, die Quelle von einer Halde überschüttet und das Flussbett einbetoniert worden. Seit 1992 läuft die Umgestaltung des 9,5 Kilometer langen Wasserlaufs.

Lange Zeit war die Emscher die Kloake des Ruhrgebiets: In dem Fluss landeten die Abwässer einer ganzen Region, ebenso das wegen des Bergbaus erhöhte Grundwasser. Jetzt, wo die Zechen schließen, soll der Fluss zwischen Dortmund und Dinslaken renaturiert werden

„Der Deinighauser Bach ist ein sehr leicht zu betreuendes Gewässer“, sagt Mechthild Semrau. Das Gewässer habe sich sehr gut entwickelt. Selbst im Hochsommer führt er Wasser.„Wir müssen kaum nachhelfen“, sagt sie und klingt dabei wie eine Lehrerin, die über ihren Lieblingsschüler spricht.

Die Struktur des neuen Laufes ist nur in Rudimenten vorgegeben worden, den Rest erledigt der Bach selbst. An einigen Stellen beeinflusst „Totholz“ die Fließrichtung, Gräser und Kiese sorgen dafür, dass Inseln entstehen. So genannte Sohlgleiten federn das Gefälle aus Bergsenkungen ab, um die Erosion zu verhindern. Auf die Bepflanzung wird kaum Einfluss genommen. „Der Wind oder Vogelkot sorgen dafür, dass sich die Pflanzenwelt typisch entwickelt.“

Worin genau das Typische besteht, lässt sich allerdings nur erahnen. „Es gibt wenig natürliche Vorbilder für unsere Gewässer“, sagt Semrau. Der Emscherumbau sei europaweit einmalig. „Wir beobachten unsere Umgestaltung intensiv, lernen dazu und greifen nur bei Bedarf ein. Wenn sich die übrigen Bäche und auch der Hauptfluss ähnlich gut entwickeln wie der Deininghauser Bach, sind wir zufrieden.“

Tatsächlich macht der kaum zwei Meter breite Bach nicht den Eindruck, als sei er jemals mit Chemikalien oder Abwässern belastet gewesen. Das Wasser ist klar und das plätschern klingt beruhigend. „Die Leute haben eine Zeit gebraucht, um sich an den natürlichen Anblick des Gewässers zu gewöhnen“, sagt Silke Wilts. „Wir hoffen aber, dass es bald die Regel ist.“ Früher hätten die Anwohner ihre Häuser bewusst so gebaut, dass sie von den stinkenden Kanälen ja nichts mitbekommen. „Mittlerweile freuen sie sich, dass sie am Wasser gebaut haben.“ Und vielleicht werden sich die Verantwortlichen dann doch einmal dazu durchringen können die Pumpen abzuschalten.