die taz vor 17 jahren über den Fall des IM Wolfgang Schnur und die Zukunft der Stasi-Vergangenheit
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Ein Fall von historischer Gerechtigkeit, dieser Fall des Wolfgang Schnur. Schnur war das willfährige Instrument, um ein CDU-Wahlkampfpendant hastig zusammenzuschustern. Er hat einen Teil der DDR-Opposition für die Bonner Christdemokraten instrumentalisiert, und zwar derart, daß es einem politischen Verrat gleichkam. Jetzt ist erwiesen, daß dieser Verrat seine Kontinuität hat. Die „Allianz“ selbst war der vorweggenommene Anschluß. Für die CDU (West) – und vor allem auch für den CDU-Generalsekretär Rühe – rächt sich die brachiale Gewalt, mit der sie sich den DDR-Wahlkampf angeeignet hat: logischerweise hat sie auch den unbewältigten Teil der DDR-Geschichte, den finstersten Teil mit eingemeindet. Der Fall Schnur ist auch ein Fall Rühe. Daß die Infamie der Bonner Rüpelgarde, die jeden Protest gegen die unheilige Allianz mit einem Stasiverdacht beantwortete – daß die Chuzpe, mit der das innerdeutsche Ministerium Persilscheine ausstellte, bis aus dem Sauerstoffzelt das Handtuch geworfen wurde, derart Schiffbruch erlitt, kann einen nur freuen.

Doch zu Freude ist kein Anlaß. Mag sein, daß diese Enthüllungen die DDR-Bevölkerung kritischer machen wird gegenüber der westdeutschen Wahlkampfmischung aus Schmutz und Verheißungen. Aber sie können auch die Angst, die Resignation und das Gefühl des Ausgeliefertseins verstärken. Vor allem läßt der Fall Schnur ahnen, welche Hypothek eine überstürzte Vereinigung Deutschlands mit sich bringen wird. Politische Käuflichkeit, Erpreßbarkeit, grenzenloser Verdacht für Hunderttausende von unklaren Lebensläufen und Quelle für unabsehbares Unrecht. Die DDR braucht Zeit, aus vielen Gründen und vor allem auch aus diesen: Die Stasi, das war nicht nur die größte Bürgerkriegsarmee, die es auf deutschem Boden je gab; sie war auch ein Teil des DDR-Alltags, eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Nur die DDR -Bevölkerung kann diese Geschichte bewältigen.

Klaus Hartung, taz 15. 3. 1990