Sehnsucht 21

Machtmanager wie der abgewählte Ministerpräsident Stefan Mappus meinen, hinter den Stuttgart-21-Protesten steckten Wut- und Frustbürger. Doch die Brüche und Aufbrüche liegen offensichtlich tiefer: Sehnsüchte lassen sich nicht schlichten. Eine Gefahr, besonders für konservative Politiker – in ganz Deutschland

von Rainer Nübel und Josef-Otto Freudenreich

Die Bruchstelle fühlte sich kalt an. An einigen Stellen war der grüne und weiße Lack abgeblättert, das Eisengerippe lag frei. Hundertschaften von Polizisten hatten tagsüber die Gitter in den Boden gerammt, mit harter Hand. Bis sich der Bruch ganz durch den Mittleren Schlossgarten zog. Monströse Machtmittel waren die Wegbereiter: Wasserwerfer, Pfefferspray, Schlagstöcke. Jetzt stand die Barriere, die Trennlinie, die Barrikade. Behelmte Polizisten in schwarzer Montur bewachten sie, die gellenden Pfiffe und empörten „Lügenpack“-Schreie der Demonstranten schienen über sie hinwegzubrausen, in eine andere Richtung, weiter nach oben.

Als die Nacht hereinbrach, beruhigte sich das Geschehen an diesem schaurigen Schauplatz vorübergehend. Halogenlampen leuchteten die kalte, eiserne Bruchstelle aus. Tausende von Menschen standen vor ihr, redeten, palaverten, viele begrüßten sich mit Küsschen und Umarmungen, diskutierten über Alltagsdinge, wie’s im Beruf läuft, ob man das Rauchen aufgeben sollte. Manche lauschten überrascht der klassischen Musik, die aus einer anderen Welt zu kommen schien. Meeting-Atmosphäre. Bis jenseits der scharf gezogenen Trennlinie der unsichtbare Apparat wieder anlief. Schnarrend startete ein Polizei-Lkw, die Menge reckte die Hälse, schwarze Helmmenschen ohne Gesichter setzten sich in Bewegung, die Menge rückte aufgeregt an die Barriere, ein Kranwagen knatterte aus dem Dunkel, die Menge begann zu pfeifen.

Der erste Baum fällt: Erst Schreie, dann Tränen

Den Mann mit der Motorsäge erkannten viele erst, als es schon vorbei war. Plötzlich, mit einem dumpfen Krachen, war der erste Baum gefallen. Ein, zwei Sekunden lang schien dieses Bild erstarrt, die Szene eingefroren. Dann brach der Sturm los. Schreie, Tröten, Pfiffe, ohrenbetäubend laut. „Aufhören!“ „Schämt euch!“ „Lügenpack!“ Ganz vorne an den Gittern wuchs der Druck. Immer mehr Menschen drängten nach. Bei jedem weiteren Baum, der in sich zusammenfiel, schwollen die Schreie aufs Neue an. Die Luft brannte. Ganz sicher, jetzt würde sie überschritten werden, die Trennlinie, die Grenze, nach all den Schlägen, Verletzungen und schockierenden Szenen an diesem Tag. Gleich würde die Bruchstelle gestürmt werden. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein. Doch es passierte nicht. Stattdessen begannen Menschen zu weinen, leise, aus erstarrten Gesichtern. Immer mehr wischten sich Tränen aus den Augen, manche verstohlen, als ob es ihnen peinlich wäre. Überall und immer wieder zeigte sie sich, sprang einen an, diese enorme Emotionalität. Sie war freilich kontrolliert, eine rationale Emotionalität.

Vielleicht war es dieser späte Abend des 30. September 2010, des „schwarzen Donnerstags“, an dem – erstmals oder endgültig – greifbar wurde, warum der konservativen Politik in diesem Land immer mehr Bürger wegbrechen. Und warum so viele Menschen aufbrechen, in Stuttgart und anderswo, um zu handeln und selbst ein Stück Politik zu gestalten. Verdrossenheit, das war lange ein gängiges Erklärungsmuster, oft und gern bemüht. Dann entdeckte ein Hamburger Leitmedium den „Wutbürger“ hinter dem S-21-Protest, und im Spiegelreflex plapperten andere Medien die Ferndiagnose nach. Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus, ein bekannt sensibler Analyst gesellschaftlicher Zustände, witterte damals eine Spätfolge der Wirtschaftskrise: Die Demonstrationen seien ein Ventil für ausgeprägten Frust. Das Grundvertrauen in politische und wirtschaftliche Akteure sei „in erschreckendem Maße verloren gegangen“.

Vieles spricht jedoch dafür, dass das Ganze viel tiefer liegt, womöglich tiefer als ein versenkter Bahnhofsneubau. Und dass darin für die Politik der machtvollen Pragmatik tatsächlich eine echte Gefahr entstanden ist. Verdrossenheit, Wut und Frust – eine solche gesellschaftliche Indikation, so scheinen manche Herrschenden zu denken, ließe sich ja noch mit Argumenten behandeln, wie authentisch oder konstruiert diese auch sein mögen. Oder, im Notfall, mit Wasserwerfern. Doch in dieser enormen Emotionalität des Protestes, einer rationalen Emotionalität, in diesen Brüchen und Aufbrüchen drückt sich offensichtlich noch mehr aus. Etwas, was Machtmanagern zutiefst fremd und suspekt sein muss, etwas, was nicht wegargumentiert, weginszeniert, gegenkalkuliert und schon gar nicht mit beißenden Wasserfontänen aus den Köpfen geätzt werden kann: Sehnsucht.

Sehnsucht entsteht aus dem Erleben einer zunehmend defizitären Realität. Und dazu bietet das entgleiste Bahnprojekt „Stuttgart 21“ tatsächlich ein weites Feld – für ein ganzes Bündel an Sehnsüchten. Bei ihren nüchternen Planstrategien hatten die Macher des Unterirdischen in den vergangenen Jahren en passant einen „Faktor“ aus den Augen verloren und schließlich ganz vergessen: den Menschen. Der Eindruck, schlicht funktionieren zu sollen, als Wahlbürger, aber faktisch nicht gehört zu werden, grub sich bei vielen S-21-Gegnern nach und nach immer tiefer ein. Wie menschlich fair und bürgernah hatte das Versprechen von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster geklungen, damals, 2004 im OB-Wahlkampf: Er werde einen Bürgerentscheid unterstützen, wenn sich die Stadt Stuttgart „in erheblichem Umfang" finanziell beteiligen müsse.

Und was wurde daraus, später, nach der gewonnenen OB-Wahl? Schuster sah partout keine Notwendigkeit, das Versprechen einzulösen, argumentierte mit kühler Rhetorik, und schließlich gingen 67.000 Unterschriften von Bürgern ins Leere. Derweil wuchsen und wuchsen die Kosten des Projekts. Ein solcher (Vertrauens-)Bruch führt zwangsläufig dazu, dass die politische Realität bei vielen Bürgern als defizitär empfunden wird. Gleichzeitig lässt er den Wunsch wachsen, als Einzelner nicht brüsk überhört, sondern ernst- und wahrgenommen zu werden, etwas zu gelten, jemand zu sein – es ist, wenn man so will, eine Sehnsucht nach dem individuellen Mehrwert. Verbunden ist sie mit der Sehnsucht, doch etwas zu bewegen, trotz eines scheinbar starren Systems der Mächtigen, politisch etwas gestalten und ändern zu können, zumindest „im Kleinen“.

In der großen Emotionalität des Stuttgarter Protestes liegt gleichzeitig ein krasser Gegensatz zu der fast aufreizenden Abgeklärtheit, mit der die politischen Protagonisten und Propagandisten das Megaprojekt managen. Ja, ihnen schien alles nur eine Frage des richtigen, klug kalkulierten Politmanagements, Planungsmanagements, Kostenmanagements oder Kommunikationsmanagements zu sein. Bis die Menschen auf die Straße gingen, Woche für Woche, es immer mehr wurden, zigtausende „Oben bleiben“ skandierten – und plötzlich ein Krisenmanagement notwendig wurde. Als ob man alles managen könnte. Menschen lassen sich jedoch nicht immer managen. Und vor allem: Sie wollen es nicht. Vielleicht auch deshalb, weil das Prinzip vom rationalen „Handling“ längst schon ihren eigenen Alltag bestimmt. Man managt heute nicht nur den Beruf und die Karriere, sondern auch den Haushalt, die Freizeit, mitunter bereits den Gefühlshaushalt. Das Leben scheint durchgeplant: analysiert, durchgestylt und rationalisiert. Emotionen, zumal öffentlich gezeigt, gelten im Beruf als hinderlich, in Politik und Wirtschaft sind sie fast schon ein Tabu. Als ob das Emotionale wie mit dem Skalpell aus dem öffentlichen Leben herausgeschnitten wurde.

Da ist das Gefühl von Ohnmacht

Daraus entsteht eine weitere Sehnsucht, die man im Stuttgarter Schlossgarten genau so zu spüren glaubte – die Sehnsucht nach dem Anderen, jenseits von Hyperrationalität, Managen und dem Gebot, funktionieren zu müssen. Es muss noch etwas Anderes geben. Es ist gleichzeitig die Sehnsucht danach, wieder „ganz“ zu sein – letztlich nach Glück.

Das Paar, das sich am Tag nach dem „schwarzen Donnerstag“ durch die Menschenmenge im Mittleren Schlossgarten treiben ließ und lautstark „Oben bleiben" oder „Mappus weg" mitskandierte, hätte gerade aus einem angesagten Stuttgarter Lifestyle-Lokal kommen können. Stefanie Brum, 40, in dunklem Blazer, schwarzem Rollkragenpulli und blauen Jeans, ist Fachanwältin mit eigener Kanzlei, ihr Partner Matthias Voll, 46, gegeltes Haar, Dreitagebart, selbstständiger Grafiker.

„Ich bin eigentlich kein politischer Mensch“, sagte Matthias Voll. Zunächst sei es die „Sinnlosigkeit“ des Bahn-Milliardenprojekts gewesen, warum er erstmals in seinem Leben demonstrieren gehe. Seit er jedoch erlebt hatte, wie die Polizei Jugendliche und ältere Menschen mit Wasserwerfern und Tränengas wegpustete, „hat es da eine neue Entwicklung bei mir gegeben“.

Der Künstlertyp, der in seiner Freizeit Songs textet und komponiert, knetete die Hände, seine Stimme zitterte: „Ich bin immer noch fassungslos, schockiert, zornig, der Kloß im Hals geht einfach nicht weg.“ Immer wieder stiegen Tränen in seine Augen. „Da ist das Gefühl von Ohnmacht – gegen die Willkür von Mappus und Co.“ Matthias Voll streckte sich, plötzlich wirkte seine Stimme fester, leichtes Pathos schwang mit: „Bisher dachte ich fatalistisch, man kann eh nichts ändern. Doch jetzt sehe ich es als meine Pflicht an, hinzustehen und zu zeigen, dass ich anderer Meinung bin – gegen diese Politik des Faktenschaffens.“

Seine Partnerin griff in ihren Rucksack und holte die „Oben bleiben“-Fahne heraus. „Die haben mir meine Freundinnen zum Geburtstag geschenkt“, lachte Stefanie Brum. Seit April 2010 geht die Stuttgarter Fachanwältin für Urheber- und Medienrecht fast zu jeder Montags- und Freitagsdemo – „mitunter auch in Stöckelschuhen“. Sie stammt aus einer niedersächsischen Arbeiterfamilie, „meine Eltern waren politisch“. Ihr Vater, ein Gewerkschaftsfunktionär, nahm sie in den 80er Jahren zu Demos mit: Brokdorf, Friedensbewegung, Anti-AKW-Aktionen. „Die Stuttgarter Demos heute sind anders, offener, deutlich weniger parteienbezogen. Sie sind eine Bürgerbewegung – und eher Kulturveranstaltungen“, sagte Stefanie Brum, während der Staatstheater-Regisseur Volker Lösch gerade gegen die „Grube-Mappus-Show“ wetterte und erneut tosender Protest durch den Schlossgarten pfiff.

„Ich nehme ganz bewusst die Möglichkeit wahr, meine Stimme zu erheben – und hoffe, dass es etwas bewirkt.“ Die Stimme von Stefanie Brum wurde noch bestimmter: „Ich glaube fest daran, dass Stuttgart 21 noch zu stoppen ist.“ Die Juristin und ihr Partner begegneten immer wieder Bekannten, Freunden, Mitstreitern. Umarmungen, Bussis, Durchhalteparolen, Oben bleiben. „2010 ist für mich ein wahnsinnig glückliches Jahr“, sagte Stefanie Brum und blickte um sich. „Ich bin nicht allein.“

Die ritterliche Rhetorik des Stefan Mappus

Solche Szenen konnte man in den vergangenen Monaten immer wieder erleben. Sie weisen darauf hin, wie tief die Brüche, wie emotional die Aufbrüche sind. Und wie fahrlässig dumm der Versuch von Stefan Mappus war, die protestierenden Menschen als „Berufsdemonstranten“, selbstredend links unterwandert, zu diskreditieren. Der robuste Machtmensch, der Politik als etwas Mechanistisches zu sehen scheint, hatte im Frühherbst 2010 plötzlich die ganz harte Linie eingeschlagen, souffliert von seinem neuen brutalstmöglichen PR-Berater Dirk Metz. Den „Fehdehandschuh“ werde er aufnehmen, kündigte Mappus in ritterlicher Rhetorik an. Bürgerferner, grotesker und hilfloser kann ein Politiker kaum wirken: ein Feldzug gegen Emotionalität, ein Kampf gegen allzu Menschliches, eine Schlacht gegen Sehnsucht?

Mappus hatte schon verloren, als er sich die so unsägliche wie desavouierende Fehde-Symbolik verpassen ließ – der Ritter Eisenherz zu Reitzenstein hatte das Wissen darum verloren, dass Menschen ihre Sehnsüchte leben wollen und müssen. Und alle Politiker, die sich dessen nicht bewusst sind und unbeirrt weiter allein auf die Macht des rationalen Kalküls und der kalten Funktionalität setzen, laufen Gefahr, so einen sehr großen Teil „ihrer“ Bürgerinnen und Bürger zu verlieren. Die zunehmende Entfremdung zwischen Bürgern und Herrschenden, die Politexperten und Medien landauf, landab ausmachen, wird an dieser konkreten Stuttgarter Bruchstelle besonders greifbar. Und vielleicht zur Chiffre einer Entwicklung, die tatsächlich eine ganze Republik verändern könnte. Deutschland, Sehnsuchtsland.

Wer Sehnsucht hat, sucht nach der anderen, vermeintlich besseren Realität, ist in Bewegung. Gleichzeitig sind Sehnsüchte etwas Subjektives, können auch egoistische Züge tragen. Werden sie nicht befriedigt, oder nicht rasch genug, kann die Bewegung ins Leere gehen. Oder sich überdrehen. Die Grünen leben politisch maßgeblich von den Sehnsüchten hinter dem Stuttgart-21-Protest. Aber auch mit dem Risiko, sehnlichst erwartete Veränderungen der bestehenden Realität nicht erreichen zu können. Und die abgeklärten Rationalisten der CDU haben am 27. März vom Wahlvolk die Quittung mit auch dafür erhalten, dass sie Sehnsüchte nicht ernst nehmen, sondern sie wegreden wollen. Der von Heiner Geißler moderierte Gesprächsmarathon zwischen Gegnern und Befürwortern habe den heftigen inhaltlichen Streit „versachlicht", hatte Stefan Mappus Ende November 2010 betont. Es klang wie ein Selbstlob.

Sehnsucht aber lässt sich nicht schlichten.