„Wir haben eine beziehungsethische Grundhaltung“

Die Mehrheit der Ärzte und Pflegenden befürwortet aktive Sterbehilfe, besagt eine Studie. Der Neurologe Andreas Zieger vom Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg im Interview über tödliches Mitleid und die Not der schwächsten Patienten im Gesundheitssystem

ANDREAS ZIEGER, 57, ist Ärztlicher Leiter der Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg.

taz: Herr Zieger, in einer Studie haben sich 55 Prozent der ÄrztInnen und Pflegenden für eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe ausgesprochen. 65 Prozent meinen, es sei unter bestimmten Umständen gerechtfertigt, das Leben von Wachkoma-Patienten zu beenden. Sind Sie schockiert?

Andreas Zieger: Durch so eine Abstimmung verschieben sich die Tabugrenzen. Das gesetzliche Tötungsverbot steht nicht zur Disposition! Aber die Bereitschaft nimmt zu, ungeniert über Sterbehilfe zu reden.

Die Studie zeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen beruflicher Unzufriedenheit und der Sympathie für Sterbehilfe. Sind die Umfrageergebnisse nicht auch ein Symptom von Missständen?

Natürlich sind sie dem Ruf der Not geschuldet. Die veränderten ökonomischen Bedingungen, Unsicherheiten und Zwänge beeinflussen die helfenden Systeme. Es kommt nicht von ungefähr, dass in den letzten Jahren immer mehr Tötungen von Patienten und Alten durch Pflegende bekannt geworden sind.

Das sind Extremfälle. Wie sieht es im Klinikalltag aus?

Gestresstes Personal wirkt sofort entwicklungshemmend auf die Behandlungssituation. Diese aber ist für die schwachen und sensiblen Menschen im Wachkoma überlebensentscheidend: Wenn ich merke, dass ich nicht willkommen bin, ziehe ich mich zurück. Aus dem Wege gehen kann der Wachkoma-Patient ja nicht.

Was erwarten Sie von den aktuellen Reformen im Gesundheitswesen?

Die medizinische Versorgung für Wachkoma-Patienten hat sich und wird sich weiter durch die Einführung der Fallpauschalen und der „Gesundheitsreform“ verschlechtern. Nicht direkt, aber indirekt: Eine Wachkomaversorgung ist teuer. Es gibt Beobachtungen, dass diese Schwerstkranken heute früher von der Intensivstation in Pflegeheime verlegt werden, wo sie kaum mehr als am Leben gehalten werden. Frühreha-Einrichtungen erhalten für die Versorgung schwerst Hirngeschädigter nicht das entsprechende Entgelt. Aber ihre Arbeit beeinflusst die Chancen der Patienten entscheidend, das Bewusstsein wieder zu erlangen. Solche Einrichtungen werden für ihre Leistungen quasi bestraft, wenn sie sie weiterhin erbringen.

Trifft das auch andere Patienten?

Es ist der allgemeine Effekt der Fallpauschalen, dass sich teure Patienten weniger rechnen. Es werden Anreize geschaffen, die Patienten in Klassen einzuteilen. Schätzungsweise eine Million Menschen werden durch die Maschen fallen. Aber wie wir mit den schlimmsten Fällen umgehen, wirkt auf das gesamte System zurück. Medizinische Erkenntnisse werden an diesen Fällen gewonnen.

In der Studie sprechen sich mehr Pflegende als ÄrztInnen für Sterbehilfe aus. Verzweifeln diejenigen, die die Hauptlast der Versorgung tragen, am ehesten daran?

Die Ärzte wissen zwar viel über Prognosen und Heilungschancen bei Wachkoma, aber sie ändern nichts. So erleben es die Pflegenden. Sie sind es in vielen Fällen, die eine Beziehung zum Patienten aufbauen und sich dagegen wehren, dass lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt werden. Die Gefühllosigkeit der Ärzte ist viel größer.

Was versuchen Sie auf Ihrer Station anders zu machen?

Auch wir waschen nur mit Wasser. Aber unser interdisziplinäres Team hat durch verschiedene Arten der Sinnesstimulation, durch Einbezug von Musik- und Kunsttherapie, seit neuestem auch tiergestützte Therapie, sehr gute Erfahrungen mit einer Grundhaltung gemacht, die ich „Beziehungsmedizin“ nenne. Wir haben eine beherzte beziehungsethische Grundhaltung, die uns vor populistischen Vorstellungen und ökonomischen Zwängen hoffentlich so lange wie möglich schützt und uns den Rücken stärkt.INTERVIEW: ANNEDORE BEELTE