Ganz schön hässlich

Berlin ist die Liebe auf den zweiten Blick. Hier gilt noch der Spruch, dass das Äußere nicht zählt. Wieso eigentlich? Eine Erkundungstour auf der Suche nach dem Reiz der Stadt. Bunt sind vor allem die Ideen der Bewohner

VON CHRISTINE BERGER

Die Tage sind noch kurz, und im Dunkeln sieht man es nicht so. Doch es muss mal gesagt werden: Berlin ist hässlich. Ganze Stadtteile strahlen eine Tristesse aus, die höchstens Wladiwostok oder Wilhelmshaven übertrumpfen. Zum Beispiel der Breitscheidplatz in Charlottenburg. Ein Monster namens Europacenter stellt die Ruine der Gedächtniskirche in den Schatten. Hässliche 60er-Jahre-Architektur umkränzt den Platz, mittendrin der „Wasserklops“, ein moderner Brunnen, der so wenig dorthin passt wie ein Lidl-Markt ins Schloss Charlottenburg. Oder der Alexanderplatz. Ein zugiges Exerzierfeld für „Kaufhof“-Kunden. Das Schönste ist die Weltzeituhr, doch die steht abseits und wird als Treffpunkt für Schulklassen missbraucht.

Schön heißt in Berlin zumeist schön gruselig. Zum Beispiel das Haus Schwarzenberg im Bezirk Mitte: Die Einschusslöcher an der Fassade stammen noch vom Zweiten Weltkrieg, die Graffitis sind neu. „Hier ist es noch authentisch“, glaubt Rolf Hampel aus München. Er hat sich mit seiner Lebensgefährtin ins Hinterhaus des Atelier- und Ausstellungszentrums getraut. Dort weist zwar kein Schild darauf hin, dass der Aufgang öffentlich ist, doch die Münchner finden es spannend, einmal abseits der offiziellen Wege die Stadt zu erkunden. In dem Häuserensemble direkt neben den Hackeschen Höfen sind nicht nur die Einschusslöcher eine Attraktion. Auch der graue Putz, der überall abbröckelt und die über und über bunt verzierten Treppenhäuser sind für Berlinbesucher exotisch. Im Hof stehen rostige Skulpturen der Künstlergruppe Dead Chickens. Durch ein kleines muffiges Treppenhaus geht es zum Anne-Frank-Zentrum, das hier eine neue Multimedia-Ausstellung präsentiert. Rolf Hampel und Karin Seidel sind begeistert. „Renovierte Immobilien kennt man ja zur Genüge.“ Dies hier sei mal was anderes. „Da kann man noch die Geschichte der Stadt ablesen“, meint die Münchnerin. Zillemilieu vielleicht?

Die Modedesignerin Melinda Stoxx hat im Haus Schwarzenberg ihren Verkaufsraum im ersten Stock. Kein Schild weist den Weg zu ihr, und nur wer sich traut, findet den Eingang. Oder weiß vorher, wo er suchen muss. „Für viele ist das eine Entdeckung“, so die gebürtige Australierin. Ein starker Kontrast zu den renovierten Hackeschen Höfen nebenan mit ihrer braven Kachelornamentik. Besonders Spanier und Italiener seien sehr abenteuerlustig und würden den Weg zu ihr finden. Neulich hat sie Besuch von jungen 20-Jährigen aus Australien gehabt. „Die haben sofort gesehen, dass sich im Treppenhaus bekannte Graffiti-Künstler verewigt haben.“ The London Police zum Beispiel.

Ein paar hundert Meter weiter vor dem Fernsehturm am Alexanderplatz sieht es sauber und aufgeräumt aus. Selbst die zahlreichen Penner benehmen sich ordentlich und sitzen halbwegs gerade. Sven Fieberer aus der Nähe von Hamburg hat sich Berlin gerade von oben angeschaut. Schön finde er die Stadt nicht. „Aber überwältigend“, so der 33-Jährige. Und jetzt am Abend sähen die Straßen mit den vielen Lichtern ja doch ein bisschen schön aus. Ob er sich vorstellen könne, hier zu leben? Er schüttelt den Kopf. „Zurzeit lebe ich die meiste Zeit in Spanien. „Da ist es schön – und romantisch“, grinst er. Berlin sei eher cool und gemütlich. „Damit meine ich die Kneipen.“

Millionen Touristen (siehe Kasten) besuchen jährlich die Stadt. Warum? Mitte, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Tiergarten sind die Bezirke, wo sich die meisten Urlauber tummeln. Selbst nach Hohenschönhausen finden sie, um das ehemalige Stasigefängnis zu besuchen. Rüstige Rentner aus Wien buchen mitunter gar eine Plattenbautour und lassen sich durch Marzahn führen. Noch trister und ungemütlicher ist es nur in Neukölln. Dort hat im vergangenen Sommer das Flamingo Beach Lotel eröffnet. Die Betreiberin Miss Mary Lou hat das Vorderhaus einer alten Mietskaserne der letzten Jahrhundertwende zum Künstlerhotel umfunktioniert. Noch sieht die Fassade trüb aus und auch im Hof will keine rechte Stimmung aufkommen angesichts der angerosteten Hollywoodschaukel und des Sperrmülls, der dort lagert. Doch innen drin tut sich was. Neun Wohnungen wurden von Künstlern gestaltet. Unter anderem gibt es ein komplett graues „Bunkerzimmer“ mit bunten Lichtspielen. Auch ein rot-weiß kariertes Marmeladenglasapartment ist entstanden und ein Waldzimmer mit Bäumen. Wer hier absteigt? „Rockmusiker und viel internationales Publikum‘“, so die 26-jährige Hotelbetreiberin. „Die finden das total cool, in dieser Ecke Berlins zu übernachten.“

Das werden die Nachbarn rundum wahrscheinlich nicht gerade behaupten. Mehrmals am Tag fliegen Propellermaschinen über die Dächer auf die Landebahn des benachbarten Flughafens Tempelhof. Hundedreck allerorten, die Hartz-IV-Empfänger-Quote ist hoch, die Perspektivlosigkeit ebenfalls. Hier Urlaub machen?

„Si“, meint Pedro aus Barcelona, der sich mit seinem Freund Francisco in Friedrichshain einquartiert hat. Berlin sei natürlich überhaupt nicht schön. Aber lebendig. „Und die Leute sind freundlich und offen.“ Froh gelaunt sitzt er am Brunnen vor dem Kaufhof am Alexanderplatz und genießt den wärmsten Tag des Winters seit Menschengedenken. Das Essen sei hervorragend betont er gleich zweimal und meint damit vor allem die deutschen Würste. „Bockwurst – hervorragend.“ Auch das öffentliche Verkehrsnetz sei eine Wucht. Aber die Architektur? Na ja. „Zu grau, und alles sieht gleich aus“, umschreibt er höflich den Zustand der Stadt.

Bunt sind vor allem die Ideen der Bewohner. Im hässlichsten Plattenbau von Mitte sind sie zu sehen. Wer den Laden „Aus Berlin“ betritt, legt die Tristesse der Karl-Liebknecht-Straße vor der Tür wie einen Mantel ab. Hier strahlen kunstvoll genähte Portemonnaies aus Lkw-Plane, bemalte Ostfriesennerze, bunte T-Shirts mit Logo der berüchtigten Rütli-Hauptschule in Neukölln oder Kalender mit Aktfotos zwischen den Plattenbauten Marzahns. Vierhundert Designer haben die Betreiber in ihrem Laden versammelt. Da braucht es einige Zeit, um alles anzuschauen. „Entweder liebt man Berlin oder man hasst es“, weiß Darius Weintzek, einer der Ladenbetreiber. Total pleite, günstige Lebensbedingungen, Stadt des Designs sind Stichworte, die fallen. „Zwischennutzung ist wichtig in Berlin.“ Die falle leider immer öfter weg, Mitte zum Beispiel sei zum größten Teil saniert, die illegalen Bars und Clubs fast alle verschwunden. Stattdessen breiten sich schicke Läden und Restaurants aus.

Schöner ist Berlin dadurch nicht geworden. Aber noch finden sich Ecken in Friedrichshain oder Lichtenberg, wo mit wenig Geld viele Ideen heranreifen. Bei „Aus Berlin“ kann man sehen, was daraus wird. Und wer diese Leistungsschau der Kreativen hinter sich hat, weiß: Berlin ist hässlich, aber schön.

www.ausberlin.de