Lieblingsmusik gegen Ohrensausen

TINNITUS Forscher des Uniklinikums Münster haben bereits 2003 herausgefunden, dass Musik gegen überaktive Nervenzellen im Gehirn helfen kann. Bisher fehlte die technische Lösung, um die neue Musiktherapie auch einzusetzen. Nun hat ein Hamburger Start-up eine Software entwickelt

„Hört man gerne Heavy Metal, kann man auch diese Musik zur Therapie nutzen“

ADRIAN NÖTZEL, MITENTWICKLER DER SOFTWARE TINNITRACKS

VON MAI-BRITT WULF

Anna Maier hat ein Piepen im Ohr. „Das klingt ungefähr so wie das Klimpern auf der höchsten Klaviertaste“, beschreibt Maier, die eigentlich anders heißt, ihren Tinnitus. Die 33-Jährige möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie will vermeiden, dass ihr Arbeitgeber von ihren Beschwerden erfährt. Seit ihrem 14. Lebensjahr leidet sie an Tinnitus. Sie hält den Abschlussball ihrer Schwester für den Auslöser. „Die Musik war so laut, dass ich darum bat, sie leiser zu stellen“, sagt Maier. Wieder daheim blieb das Piepen auf den Ohren. „Ich bin schreiend vor Verzweiflung durch das Wohnzimmer gerannt“, erinnert sie sich. Damals glaubte ihr niemand, dass sie ununterbrochen einen Ton hört.

Heute lebt sie mit einem Piepton auf dem einen Ohr und zwei Tönen auf dem anderen Ohr. Die Geräusche nimmt sie besonders laut wahr, wenn es ruhig ist. Stressbedingt verschlimmert sich das Geräusch. Aber sie hat sich mit ihrem Tinnitus arrangiert. „Mich stört vor allem, dass meine Hörfähigkeit auf dem einen Ohr um 15 Prozent abgenommen hat“, sagt Maier.

Die Entwicklung eines Hamburger Start-up-Unternehmens könnte Maier nun zumindest dabei helfen, die Intensität ihres Ohrensausens zu verringern. Die entwickelte Software Tinnitracks greift die Idee von Forschern des Uniklinikums Münster auf, die Tinnitus mit speziell gefilterter Musik therapiert haben. Die Betroffenen müssen beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder Hörgeräteakustiker ihre persönliche Tinnitus-Frequenz bestimmen lassen und Tinnitracks filtert diesen Ton dann aus der Lieblingsmusik heraus. Das störende Piepen oder Rauschen soll durch das Hören dieser gefilterten Musik deutlich gelindert werden.

Jeder Tinnitus ist anders

Fast jeder hat mal ein Rauschen, Zischen oder Piepen im Ohr – meist nur vorübergehend. Bleibt der Ton länger als drei Monate, sprechen Mediziner von einem chronischen Tinnitus. Laut der Deutschen Tinnitus Liga leiden etwa drei Millionen Deutsche an chronischem Ohrensausen. Andere Schätzungen gehen von elf Millionen Betroffenen aus. Meist ist der Tinnitus keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Symptom anderer Krankheiten. Als häufigste Ursache gilt eine Schädigung des Innenohrs, ausgelöst etwa durch ein Lärmtrauma wie bei Anna Maier.

Maier leidet unter einem sogenannten kompensierten Tinnitus. Das bedeutet, dass sie das Piepen zwar wahrnimmt, sich der Leidensdruck aber in Maßen hält und die Lebensqualität wenig bis gering beeinträchtigt ist. Leiden Patienten unter einem dekompensierten Tinnitus, wirkt sich das signifikant auf ihr ganzes Leben aus. Diese Patienten können das Geräusch nicht ausblenden, sind im privaten und beruflichen Bereich eingeschränkt. Folgeerscheinungen wie Depressionen, Schlafstörungen und Angstzustände können auftreten. Viele Betroffene unterziehen sich einer Psychotherapie, um mit dem Geräusch leben zu lernen.

Überaktive Nervenzellen

Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet Tinnitus aurium: Klingeln der Ohren. Dieses Klingeln wird zwar im Ohr wahrgenommen, der Ursprung des Tinnitus liegt aber im Gehirn. Im Hörzentrum entsteht das Pfeifen, Piepen oder Zischen, da einige Nervenzellen krankhaft überaktiv sind. Und normalerweise bewirkt simples Musikhören keine Verbesserung.

Doch Forscher des Uniklinikums Münster haben bereits vor über zehn Jahren herausgefunden, dass das Hören von individuell gefilterter Musik die Überaktivität der Nervenzellen beruhigt und den Ton im Ohr lindert. Das Gehirn wird durch die Musik, aus der die individuelle Tinnitus-Frequenz herausgefilert wurde, neurophysiologisch trainiert und so sinkt die Intensität des Tons laut der Münsteraner Forscher im Schnitt um 25 Prozent. Lange fehlte aber die technische Lösung, um diese Musiktherapie umzusetzen.

Bis das Hamburger Start-up-Unternehmen Sonormed Tinnitracks auf den Markt brachte. Die von den drei jungen Gründern Jörg Land, Adrian Nötzel und Matthias Lanz entwickelte Software Tinnitracks überprüft, ob die Musik geeignet ist und bereitet sie individuell für die Behandlung auf. „Wir wollten die Therapie Ärzten und Patienten einfach zugänglich machen, ohne dass sie technisch versiert sein müssen“, sagt Geschäftsführer Land.

Auf der Tinnitracks-Internetseite meldet sich der Nutzer an, gibt zu Beginn der Therapie einmalig seine Tinnitus-Frequenz an und wählt seine Lieblingsmusik aus, die er für die Therapie nutzen will. Die Software prüft, ob die Musik geeignet ist und filtert anschließend die störende Tinnitus-Frequenz heraus. Diese gefilterte Musik wird heruntergeladen und die Therapie kann beginnen.

Ein Jahr lang sollte man, so die Empfehlung der Tinnitracks-Entwickler, jeden Tag ein bis zwei Stunden lang die gefilterte Musik hören. „Es ist nicht das Musik Anhören an sich, das den Therapieeffekt hervorruft“, sagt Nötzel. „Es ist die Frequenzkerbe in Kombination mit der Musik.“

Tinnitracks-Nutzer zahlen für ein Jahr 539 Euro. Während dieser Zeit können sie beliebig viele Musikstücke bearbeiten lassen und diese auch nach Abschluss der Therapie weiterhören. „Tinnitracks kann man gut in den Alltag integrieren“, sagt Land. „Man muss nichts Neues lernen, weder zum Arzt gehen noch Schmerzen ertragen.“ Es reiche, seine Lieblingsmusik zu hören.

Der Koran hilft nicht

„Hört man gerne Heavy Metal, kann man auch diese Musik zur Therapie nutzen“, sagt Nötzel. Es habe auch schon ungewöhnliche Anfragen gegeben. „Vor einiger Zeit erkundigte sich der Vertreter eines Scheichs, ob man auch Koranlesungen zur Therapie nutzen könne“, sagt Nötzel. Aber Sprache eigne sich nicht, weil sie zu schmalbandig sei.

Durch eine Bekannte hat Anna Maier von Tinnitracks erfahren und wird die neue Therapiemethode bald testen: „Ich erhoffe mir Linderung, aber kann es mir noch nicht vorstellen. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.“