Im Kettenhemd

Das Solo „Faut qu’on parle!“ des Hiphop-Tänzers Hamid Ben Mahi im HAU ist ein Rückblick voller Bitterkeit

Gleich zwei Festivals laufen in den HAU-Theatern derzeit: Das hauseigene Format „Beyond Belonging“ und Gastspiele der über die Stadt verstreuten französischen Theaterszene „France en Scène“. „Faut qu’on parle“, ein Solo des Tänzers Hamid Ben Mahi, gehört zu diesem Frankreichprogramm und trifft doch ebenso ins Zentrum der Erkundungen von „Beyond Belonging“. Denn in einem langen, von Tanzstücken durchsetzten Monolog erzählt Hamid Ben Mahi über seine Kindheit, seine Jugend, den Umgang mit der Herkunft aus Algerien, die Erfahrung der Ausgrenzung. Es ist eine schmerzhafte und eindeutige Geschichte.

Sein Tanz, der die Erzählung immer wieder unterbricht, nimmt in den Bewegungen oft eine Stoßrichtung von unten nach oben. Er ist ein David, ein Kleiner, der sich gegen einen übermächtigen Gegner wehren muss. In den vielen aus dem Hiphop entwickelten Sequenzen betont sein Körper nicht die Vertikale, sondern die Horizontale, parallel zum Boden. Dort bewegt er sich mit großer Schnelligkeit und Wendigkeit. Das kennt man zwar aus den Battleszenen des Hiphop; aber nicht oft erscheinen dieses Drehen und Ausweichen, diese Finten und das Antäuschen, diese unvorhersehbaren Rückzüge und Verzögerungen so sehr auch als Symbol.

Seine Gegner sind ein wachsender Rassismus und die Stigmatisierung der sozial Schwachen, die beide Hand in Hand daherkommen. Sie sind mächtiger geworden seit seiner Kindheit vor über zwanzig Jahren in einem Vorort von Bordeaux. Das belegt er nicht nur mit seinen Erinnerungen, sondern auch mit kurzen Ausschnitten aus Interviews mit Immigrantinnen der Generation seiner Mutter und mit Historikern. Darin unterscheidet sein Leben und das seiner Freunde sich von dem der nach Frankreich Gekommenen – das Szenario wird bedrohlicher.

Der Tanz der Hiphop-Kultur hat darüber seine Bedeutung verändert. Zuerst war er vor allem ein anderer Zustand, eine selbstgeschaffene Welt, mit untereinander ausgehandelten Regeln und einem Bewegungswissen, das eben nicht schon vor einem selbst da gewesen war – ein Ort, um die Demütigungen des Alltags zu vergessen. Auf Dauer aber reicht dieses Konzept nicht mehr. Das Stück „Faut qu’on parle“, das Hamid Ben Mahi zusammen mit dem Regisseur Guy Alloucherie als eine biografische Recherche angelegt hat, markiert den Punkt der Veränderung. Das Ausblenden und Verdrängen der Geschichte muss jetzt mit hineingenommen werden in die Performance.

Am Ende legt Hamid Ben Mahi ein Kettenhemd an. Man sieht ihn nur noch im kleinen Lichtkegel einer Schreibtischlampe. Wie auf einer Mission fühlt er sich, sagt er, jemand, der all seine Kräfte darauf verwenden muss, seine Identität zu erklären. Was für ein Raubbau an Lebensenergie. KATRIN BETTINA MÜLLER