Die Schatten des Zweiten Weltkriegs

Ian Buruma wuchs in Den Haag auf und lebt schon lange in New York. Er verbindet die Binnensicht des Einheimischen mit der Distanz des Ausländers. Das macht sein Buch „Die Grenzen der Toleranz“ zu einem der interessantesten Texte über das multikulturelle Zusammenleben in den Niederlanden

71 Prozent der nieder- ländischen Juden wurden ins KZ transportiert – das prägt die Debatten bis heute

VON ULRIKE HERRMANN

Die Niederlande sind klein, noch kleiner, als es auf der Karte aussieht. In Wahrheit ist das Land nur 80 Kilometer lang. In dieser Enge drängt sich die „Randstad“, wie die Ansammlung der vier größten Städte, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht, genannt wird. Hier lebt fast die Hälfte aller Niederländer; hier befinden sich die wichtigsten Universitäten und Medien.

Besonders in den Meinungseliten kennt man sich intim, was schnell zu einer Ritualisierung der Debatten führt. Diese polemische Verhärtung zeigte sich zuletzt beim Thema Migration. So wurde im Ausland eher verblüfft zur Kenntnis genommen, dass in einer Fernsehumfrage der Rechtspopulist Pim Fortuyn zum „bedeutendsten Niederländer aller Zeiten“ gewählt wurde.

Nun liegt erstmals eine externe Deutung der niederländischen Diskurse vor: Die US-Zeitschrift The New Yorker schickte den bekannten Journalisten und Historiker Ian Buruma nach Amsterdam, nachdem in den Niederlanden innerhalb von nur zwei Jahren zwei politische Morde verübt wurden. 2002 starb Fortuyn durch die Kugeln eines verrückten Tierschützers, 2004 erschoss ein Islamist den Filmregisseur Theo van Gogh.

Buruma ist niederländischer Weltbürger. Der Sohn eines Holländers und einer Britin deutsch-jüdischer Herkunft wuchs in Den Haag auf, verließ seine Heimat aber 1975 mit 24 Jahren und hat seither vor allem in Asien und New York gelebt. Er verbindet die Binnensicht eines Einheimischen mit der Distanz eines Ausländers – und diese einzigartige Mischung macht seine analytische Reportage „Die Grenzen der Toleranz“ zu einem der interessantesten Bücher, die über die aktuelle Stimmung in den Niederlanden erschienen sind. Zumal Buruma sehr anschaulich schreibt: Er kombiniert Porträts, Erinnerungen und Anekdoten mit historischen und theoretischen Betrachtungen.

Die Holländer selbst haben das Buch allerdings weitgehend ignoriert. Auch bei wohlmeinenden Rezensenten ist zu spüren, dass sie Buruma als angereisten Ausländer betrachten, der für die Niederländer nichts Neues beizutragen hat. In der Volkskrant etwa wurde Buruma zugestanden, dass er „gut informiert“ sei – „aber wir Niederländer sind längst hinreichend informiert“.

Zum Teil nahm die Kritik groteske Züge an. So beschwerte sich der Soziologe Paul Scheffer, er sei früher nicht Maoist gewesen, sondern Kommunist. Ein Fehler wurde auch beim Philosophen Herman Philipse entdeckt, der zeitweise der Geliebte der charismatischen Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali war: Er sei niemals Professor in Oxford gewesen, sondern immer nur in Utrecht. Inzwischen haben die Kritiker schon 120 bis 150 derartige „sachliche Fehler“ ausgemacht. Diese Abwehr hat auch damit zu tun, dass vielen Lesern nicht deutlich ist, was Burumas Methode der Diskursanalyse bewirken soll. Sie vermissen politische Ratschläge zum Thema Einwanderung oder eine deutliche Bewertung der Akteure.

In der Tat bemüht sich Buruma, seine Hauptpersonen differenziert darzustellen. So reduziert er Theo van Gogh nicht auf den bösartigen Polemiker, der Muslime gern als „Ziegenficker“ bezeichnete. Buruma streicht auch sein „intelligentes Interesse“ heraus. Van Gogh war Provokateur, aber kein Rassist und „einer der ganz wenigen holländischen Regisseure, die Filme über Immigranten drehten“.

Oder Fortuyn: Mit erkennbarem Spaß sucht Buruma nach immer neuen Beschreibungen für diesen selbstironischen Poseur, der „teilweise wandelnder Penis, teilweise unechter Aristokrat“ war. Ein Populist der kalkulierten Gegensätze, „der mit der Angst vor den Muslimen spielte, während er sich brüstete, Sex mit marokkanischen Jungen gehabt zu haben“. Fortuyn war der homosexuelle Sohn eines katholischen Vertreters für Briefumschläge, der sich in den protestantischen Niederlanden als Außenseiter fühlte. „Er war von Ressentiments getrieben, das war vielleicht das Echteste an ihm.“

Obwohl Buruma vor allem beschreibt, sind seine Sympathien erkennbar verteilt. So schildert er zwar einfühlsam Ayaan Hirsi Alis Enttäuschung darüber, dass so viele muslimische Einwanderinnen die westlichen Freiheiten nicht nutzen und sich weiter von ihren Männern und Vätern unterdrücken lassen. Aber ihre Politik der Provokation hält er für verfehlt – etwa ihren Film „Submission“, der Korantexte auf nackte Frauenkörper projizierte. Sie sei kein „Voltaire des Islam“, obwohl sie sich selbst gern in der Tradition der Aufklärung sieht: „Voltaire hatte seine Beleidigungen gegen die katholische Kirche geschleudert, im 18. Jahrhundert eine der beiden mächtigsten Institutionen Frankreichs, während Ayaan nur riskierte, eine Minorität im Herzen Europas zu kränken, die ohnehin bereits angeschlagen war.“

In den niederländischen Diskursen erkennt Buruma ein Muster: Ständig würde auf den Zweiten Weltkrieg verwiesen. So hat van Gogh den jüdischen Bürgermeister von Amsterdam wiederholt einen „Nazi-Kollaborateur“ genannt, nur weil sich Job Cohen um die Verständigung mit den muslimischen Bürgern seiner Stadt bemüht. Auch Cohen nutzt den Vergleich mit dem Nationalsozialismus, nur umgekehrt: Minderheiten dürften nie wieder ausgegrenzt werden. Der Bestsellerautor Geert Mak wiederum verglich die Filmtechnik von „Submission“ mit dem antisemitischen Propagandafilm „Der Ewige Jude“. Und Fortuyn wurde von den klassischen Parteien öfter „Nazi“ genannt.

Er reduziert Theo van Gogh nicht auf den bösartigen Polemiker, der Muslime als „Ziegenficker“ bezeichnete

„Wenn es in Holland eine Krise gibt, dann sind die Schatten des Zweiten Weltkriegs nie fern.“ Burumas Erklärung: 71 Prozent aller niederländischen Juden wurden in Konzentrationslager abtransportiert. Eine höhere Quote unter den besetzten Staaten hat nur Polen zu verzeichnen. „Wie eine Giftwolke hängt dieses Grauen immer noch über dem holländischen Leben, und die – bis in die 1960er Jahre weithin verschwiegene – Schande vergiftet bis heute jede nationale Debatte.“

Die Härte der Debatte erklärt sich aber auch durch die niederländische Literaturtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, wie Buruma herausarbeitet: In sogenannten Schimpfkritiken wurde „die persönliche Beleidigung zum hohen Stil erhoben“. Denn in der kleinen Welt Hollands war diese stilisierte Beschimpfung eine Möglichkeit, Animositäten effizient zu ritualisieren. „Sie war ernst gemeint, aber nie tödlich.“ Für Einwanderer ist dies nicht zu verstehen. Sie fühlen sich existenziell getroffen, wenn Autoren der Mehrheitsgesellschaft von „dreckigen Moscheen“ schreiben.

Jede Diskursanalyse hat ihre Grenzen: Sie kann erklären, wie eine Debatte geführt wird – aber nicht, warum. Auch bei Buruma bleibt unklar, was die Niederländer drängt, sich so obsessiv mit dem Thema Einwanderung zu beschäftigten. So vertritt er die These, dass gerade ehemalige Linke den Islam ablehnten, weil er sie an ihre eigenen religiösen Sehnsüchte erinnere. Damit bleibt er jedoch wieder auf der Diskursebene, während er die ökonomische Entwicklung in den Niederlanden weitgehend ignoriert.

Seit dem Mord an Theo van Gogh wird in den internationalen Migrationsdebatten gern behauptet, die Niederlande würden exemplarisch beweisen, dass multikulturelle Toleranz nur scheitern kann. „Die Niederlande sind überall“, lautet die prägnante Formel. Bei Buruma dagegen lässt sich nachlesen, wie niederländisch die niederländischen Debatten in Wahrheit sind. Diese Korrektur war überfällig.

Ian Buruma: „Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh“. Aus dem Englischen von Wiebke Meier. Carl Hanser Verlag, München 2007, 248 Seiten, 19,90 Euro