Vollgas, Vollbremsung

ZITATTHEATER Der Schauspieler Milan Peschel ist als Regisseur ein großartiger Animateur seiner Kollegen. Am Gorki Theater inszeniert er Ernst Lubitschs Komödienklassiker „Sein oder Nichtsein“ etwas zu zackig

Weiterhin werden trashige Zimmerwände gerückt, aber etwas ist anders: Gefahr ist im Raum

VON CHRISTIAN RAKOW

„Hundert Skalpe“ hat der Boss in der Fliegerjacke gefordert, „von den Köpfen einhundert toter Nazis.“ Aber wie stellt er sich das vor? „Das ist doch nicht der Wilde Westen! Wir sind in Warschau“, stammelt der zum Widerstandskämpfer avancierte Schauspieler Grünberg (Johann Jürgens). „Ich könnte ja Skalpe anfertigen in der Maske.“

Warum auch nicht den „Inglourious Requisiten-Basterd“ geben, wo doch der Fliegeroffizier Sobinsky so wunderbar als Quentin-Tarantino-Zitat herumstiefelt? Tricks klappen ohnehin in dieser Adaption des Lubitsch-Films „Sein oder Nichtsein“ am Gorki Theater, in der ein jeder möglichst schnittig zwischen Theater und Kintopp, zwischen Zitaten und Zitatzitat herumrast. Und zwar im hochtourigen Drehzahlbereich, den Schauspielregisseur Milan Peschel seinen Akteuren stets abverlangt.

Ende März hatte die Inszenierung in polnischer Besetzung am Stary Teatr Krakau Premiere. Irritation habe Peschels assoziationsreiches Volldampftheater dort hervorgerufen, war zu vernehmen. In Berlin, wo die Arbeit nun in deutscher Umbesetzung eintrifft, ist’s ein Heimspiel. Der grandiose Verausgabungsspieler Peschel ist als Regisseur ein Schauspieleranimateur. Er peitscht ein, er treibt an und hinauf in luftige Höhen, mitunter bis zum Absturz.

Ernst Lubitschs Komödienklassiker um die polnische Theatertruppe, die durch todesmutige Verwechslungsspiele die Enttarnung von Untergrundkämpfern im besetzten Warschau verhindert, gerät fast durchweg zur Klamotte. Ronald Kukulies lässt mit dem Edelmimen Josef Tura seinen Komödiantenbizeps an der Rampe glänzen. Sabine Waibel lenkt die Gefallsucht ihrer Staraktrice Maria Tura ins Quengelig-Pathetische, wenn sie Hitler als Karrierekiller verflucht. Zwischen das Paar platzt Hans Löw als Fliegeroffizier Sobinsky. Auch er, dieser ansonsten so elegante Humorist Löw, überzuckert, dass es einem den Magen umdreht.

Gags aus dem Film (den Nick Whitby für die Bühne dramatisiert hat) werden vorzugsweise zwei- bis dreimal wiederholt. Weshalb die Spieldauer gut das Doppelte beträgt. Trotz Schnellsprechfuror. Gelegentlich zieht Peschel die Notbremse auf seiner Rundenjagd durch den Boulevard. Ausgiebig lässt er „Hamlet“ (in der Übersetzung von Heiner Müller) einfließen, und Kukulies besinnt sich mit einem stillen „Sein oder Nichtsein“-Vortrag auf die Überlebenskraft wahrhaftiger Verstellung. Ein inwendig tiefes Echo gibt der alte Grande Horst Westphal seinem Bronsky, als er hockend bekennt, er wolle „kein Nazistück“ spielen. Ja, auch dieser erste Teil hat seine Momente. Im Ganzen aber fühlt er sich an wie eine Jungferntour nach bestandener Führerscheinprüfung: mit Vollgas auf hundert, dann Vollbremsung, dann wieder Vollgas.

Nach der Pause kriegt dieser Abend doch noch die Kurve. Weiterhin werden trashige Zimmerwände (von Bühnenbildnerin Magdalena Musial) gerückt, aber etwas ist anders: Gefahr ist im Raum. Ein Hauch davon hatte sich schon mit Wilhelm Eilers als Gestapo-Spion Prof. Silewski angekündigt. Jetzt aber führt Holger Stockhaus als SS-Gruppenführer Erhardt ein wahres Ballett des Grauens auf. Er tänzelt, kokettiert, kommandiert geckenhaft seinen Untergebenen Schulz (Martin Otting). Zynisch funkeln dabei seine Augen.

Stockhaus gibt wie zuletzt in „Pension Schöller“ am Leipziger Centraltheater ein immenses Solo: dekonstruktiv, aber klar, verspielt, aber mit hoher Konzentration. So nähert sich die gesamte Mannschaft dem offenen Schluss dieses Schwanks: Weil die reale Geschichte – anders als der Film aus dem Jahr 1942 – ihren Protagonisten ein Happy End versagt hat, rasten die Widerstandskämpfer bei Peschel angesichts einer möglichen Niederlage. Eine intelligente Komödienverdüsterung, die allerdings an den Song von Eric Burdon vom Anfang denken lässt: „I think of all the good time that I’ve wasted having good times.“ Warum so viel gute Zeit mit so viel guter Laune vergeuden?

■ Wieder am 18. und 25. April, 3. Mai im Maxim-Gorki-Theater