Im Weinberg der Macht

Es gibt Orte, die die Fantasie anregen. Magische Orte. Die Trauminsel Sansibar etwa, die die Deutschen angeblich gegen Helgoland eingetauscht haben, was aber längst als moderne Legende entlarvt ist. Das Tadsch Mahal, dieses imposante Mausoleum für eine indische Prinzessin. Oder eben das Weinberghäuschen der IHK in Stuttgart, das hier nur Weinberghäusle heißt

von Susanne Stiefel

Hier auf halber Höhe des Stuttgarter Kessels gibt man sich äußerlich schwäbisch-bescheiden. Doch drinnen soll es – hui! – so richtig zur Sache gehen. Sagen manche, die schon drin gewesen sind. Und viele, die nie reinkommen werden. Über die wichtigen Projekte des Landes werde dort beraten. Ein offenes Gespräch zwischen den Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik und Medien soll es dort geben, streng geheim natürlich, unbeeinträchtigt von aller lästigen politischen Korrektheit. Es braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich solche Runden in einem Bundesland vorzustellen, das fast 58 Jahre lang von der gleichen Partei regiert wurde. Man kennt sich.

Da ist etwa Hans Peter Stihl, Sägenfabrikant und langjähriger IHK-Präsident, Dieter Hundt, Unternehmer und Arbeitgeberfunktionär, Jürgen Offenbach, langjähriger Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten, der heute unter dem Namen „ok" (Offenbach Kommunikation) ein Büro betreibt, dessen Zielsetzung im Online-Auftritt so formuliert ist: „Damit es gut läuft, braucht es einen Lotsen im magischen Dreieck zwischen Wirtschaft, Politik und Medien.“ Ein Schelm, wem hier die Fantasie durchgeht.

Über Inhalte wird nur in Andeutungen gesprochen. Man fühlt sich geehrt, wenn man zu den geladenen Auserwählten gehört, die in das kleine Kellergewölbe passen; wenn die Industrie- und Handelskammer 14 Jünger zum Abendmahl über den Dächern von Stuttgart lädt. In diesen Kreisen weiß Mann: Der Gentleman schweigt und genießt. Übrigens: Es sollen auch schon Frauen dort gewesen sein.

Mehr Jobs, mehr Tempo, mehr Stadt

„Natürlich waren auch schon Frauen da“, bekräftigt Andreas Richter, „zum Beispiel Tanja Gönner, die Umweltministerin.“ Doch, und darauf legt der IHK-Hauptgeschäftsführer Wert, sei das erst im November vergangenen Jahres gewesen. Nach, „ich betone: nach“, der Schlichtung zu S 21 unter der Regie von Heiner Geißler. So viel Klarstellung muss sein im Jahr der engagierten Bürgerproteste.

Beim Aufruhr um die Tieferlegung des Stuttgarter Bahnhofs werden auch IHK-Verantwortliche zurückhaltend, allerdings nur in der Formulierung. Die Position der Kammer hingegen ist klar: pro Stuttgart 21. Das schrieb sie sich sogar auf die Fahnen („S 21 – mehr Jobs, mehr Tempo, mehr Stadt"), die vor dem Geschäftsgebäude wehten. Die muss sie jetzt allerdings ganz schnell auf richterlichen Beschluss hin einholen.

Der neuen grün-roten Regierung hat die Kammer übrigens schon einen Tag nach der Wahl ihre Unterstützung angeboten. Man will ja weiter dabei sein.

Bekannt wurde das IHK-Häusle durch den Streit über Stuttgart 21. Es war auch schon Kulisse für den „Tatort“ und für Theaterstücke, doch vor allem steht es symbolisch als Tatort für das Bahnhofs-Projekt. Hier oben, mit ausgeruhtem Blick auf den Talkessel und den Kopfbahnhof, soll der Entschluss vorbereitet worden sein, den Bahnhof samt Gleisen im Stuttgarter Untergrund zu versenken. Hier sollen sich die Herren aus den Redaktionen, von der IHK, Bahn und Politik zwei, drei Gedanken darüber gemacht haben, wie man dieses Vorhaben voranbringen kann, das sie für einen großen Fortschritt halten, weil es Stuttgart endlich mit dem Rest der Welt verbindet.

Harmonischer Dreiklang mit Wein

Dass hier im rustikalen Gewölbekeller bei Wein und in harmonischem Dreiklang von Wirtschaft, Politik und Medien etwa zwei-, dreimal im Jahr ein „Gedankenaustausch“ stattfindet, gibt Andreas Richter gerne zu Protokoll. Doch dass hier Mitte der 90er Jahre auf das umstrittene Projekt S 21 eingeschworen worden sei, weist der Mann, der seit 1998 die IHK-Geschäfte führt, vehement zurück. „Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen“, wettert Andreas Richter, der früher Wirtschaftsressortleiter der Stuttgarter Zeitung war. Dass man mal drüber gesprochen habe, kann und will er jedoch nicht ausschließen.

Nicht gesprochen wird darüber, wer denn nun zu dem starken Dutzend gehört, das die IHK zwei-, dreimal im Jahr zum erlauchten Treffen lädt. Nur so, meint der Hauptgeschäftsführer, könne man sich schließlich unbekümmert austauschen. Geheime Treffen also, bei denen keine Namen genannt und nicht fotografiert werden darf? „Geheim, geheim, was heißt schon geheim?“, fragt Richter zurück. „Es soll halt niemand wissen, dass die da gewesen sind.“ Kein Wunder, dass die Fantasie das Häuschen umrankt wie die Reben. Vor allem in der hitzigen Diskussion über S 21, in der sich die Gegner nicht nur einmal von ihrer Regierung und den örtlichen Zeitungen verschaukelt fühlten. Hier soll also alles angefangen haben? „Wenn Sie das hier oben gesehen haben, dann kühlt Ihre Fantasie ab“, sagt Andreas Richter. Zum Abkühlen also hinaufgestiegen auf den Kriegsberg.

Das Gewölbe ist rustikal, roter Sandstein, einfache Stühle, Holztisch. Eine intime Atmosphäre ist schon allein durch die Größe sichergestellt, alles leer heute, nur der IHK-Hausmeister Michael Fritz ist da und schließt auf. Kaum zu glauben, dass in diesem kleinen Raum 14 Menschen Platz finden sollen. Hier kann man sich nahekommen. Vor dem Häusle liegen die IHK-eigenen Reben. 70 Ar stadtnahe Reben, erklärt Hausmeister Fritz, aus denen jährlich etwa 7.000 Flaschen IHK-Riesling und IHK-Trollinger gepresst werden. Hübsch gelegen zwischen chinesischem Garten, einem Relikt der Internationalen Gartenschau, und dem Züblin-Weinberg. „Die haben ein größeres Häusle“, sagt der Hausmeister. Da schwingt ein bisschen Neid mit. Der alte Bahnhof, der Bonatzbau, liegt in seiner ganzen Pracht zu Füßen des Weinbergs.

Michael Fritz weiß, dass „genau unter uns durch“ der Tunnel gegraben werden soll, auf dem die tiefergelegte Bahn dann entlangrauschen soll. Er weiß auch, dass die Bedienungen früher noch vors Häusle geschickt wurden, nachdem sie den Herren eingeschenkt hatten, damit die drinnen ungehört tagen konnten. Bei Regen sei das besonders unangenehm gewesen. Inzwischen finden die Bedienungen Unterschlupf in einer kleinen Küche, wenn drinnen in Geheimnissen gekramt wird.

Uli Maurer war auch schon drin. Zu Zeiten der großen Koalition durften Maurer als SPD-Fraktionschef und Dieter Spöri als SPD-Wirtschaftsminister auch mal mitspielen. Das war Mitte der 90er Jahre, und lange, bevor der bullige Mann, den seine Mitarbeiter nur „Master of disaster“ nennen, bei den Linken und im Bundestag gelandet ist. Uli Maurer war neugierig und womöglich fühlte er sich auch ein bisschen geschmeichelt. Im Gewölbekeller im Weinberghäusle hoch über Stuttgart stellte er fest, dass da alle munter mitmischten. Da wurden Projekte eingetütet, von der Wirtschaft initiiert, von der Politik auf den Weg gebracht, von den Medien begleitet. „Mir blieb die Spucke weg“, sagt Maurer heute. „So macht man also Politik, hab ich gedacht.“

Die einen sehen „keinen Filz weit und breit“ hier im Weinberg, wie der Politik-Ressortleiter der Stuttgarter Nachrichten, für den das Weinberghäusle von 100 Gründen, Stuttgart zu lieben, der 92. ist. Andere mutmaßen, dass dort oben viel effektiver Politik gemacht wird als im Landtag, wie der Stern-Journalist Hans Peter Schütz in seinem Artikel „Fahrt auf schwäbischem Filz“, der hier oben den Grund dafür gefunden haben will, warum die Stuttgarter Medien das Projekt S 21 so lange so freundlich begleitet haben: Weil sie hier im Weinberghäusle Mitte der 90er Jahre mit den Chefs von CDU und SPD und einflussreichen Wirtschaftsbossen zusammengesessen seien, als der Zug auf die Schiene gesetzt wurde, wenn das Bild noch erlaubt ist. „Wir mussten nicht eingenordet werden“, sagt ein leitender Redakteur, der mit dabei war, „wir waren doch voll begeistert.“ Es war die Zeit des Mauerfalls, die Achsen hatten sich verschoben, und viele Lokalpatrioten fürchten, von der Mitte Europas an den Rand gedrängt zu werden. Es war die Geburtsstunde der legendären Magistrale Paris–Stuttgart–Bratislava.

Und es war vor Andreas Richters Zeit als Hauptgeschäftsführer. Nun ist sein Häusle also durch S 21 berühmt-berüchtigt geworden. Nervt Sie das, Herr Richter? „Für die IHK ist das super“, sagt Richter, „wenn in Stern und anderswo geschrieben wird, wie viel Macht die Kammer hat. Was mich stört, ist höchstens, dass das alles frei erfunden ist.“ Nicht erfunden jedenfalls ist die abschließende Ansage des IHK-Geschäftsführers: „2012 werden wir hier oben sicher darüber nachdenken, wie ein guter OB für Stuttgart aussehen kann.“ Es ist ja nicht so, als ob man nicht mitmischen wollte.

Womöglich werden demnächst auch die Herren Kretschmann und Schmid hier oben sitzen. Aber, pardon, das ist jetzt wirklich pure Fantasie.