Progressiver Selbstzweifler

NEUANFANG Argentinien will mit Trainer Gerardo Martino wieder attraktiven Fußball spielen. Dabei gilt der 51-Jährige bislang nicht gerade als Revolutionär

Gerardo Martino galt als exquisiter Spielmacher, der das Pech hatte, in einer Zeit mit Diego Armando Maradona zu leben. Er hat es deshalb nie zu einer prominenten Rolle in der argentinischen Nationalelf gebracht. Doch als Maradona gegen Ende seiner Karriere noch einmal für ein paar Wochen bei Newell’s Old Boys anheuerte, musste Martino nicht lange überlegen. Er hatte zu dieser Zeit bereits an die 500 Spiele für seinen Herzensklub bestritten, er war das Idol der Tribünen – aber selbstverständlich trat er für diese paar Wochen im Herbst 1993 seine Kapitänsbinde an den großen Diego ab.

Die Episode ist nicht untypisch für den heute 51-Jährigen, den sie „El Tata“ nennen, den Großvater, und der dem Fußball mit einem altertümlichen Respekt begegnet, der manchmal fast ins Devote geht. Wenn er nun in Düsseldorf erstmals die Auswahl seines Landes coacht, ist gleich wieder Rücksichtsnahme gefordert. Star Lionel Messi hat wegen Adduktorenbeschwerden abgesagt, obwohl er noch am Sonntag beim 1:0 seines FC Barcelona in Villarreal wie in besten Tagen über den Platz wirbelte. Sogar Gerüchte über einen zumindest partiellen Rücktritt aus der Nationalelf machten die Runde; so hartnäckig, dass Vater Jorge sie dementieren musste.

Martino demonstrierte derweil seine Uneitelkeit, indem er für den Deutschlandtrip exakt den Kader seines zurückgetretenen Vorgängers Alejandro Sabella berief. Erst zahlreiche verletzungsbedingte Absagen zwangen ihn zu den ersten eigenen Entscheidungen, der Nachnominierung von Nicolás Gaitán (Benfica) und Erik Lamela (Tottenham). Dabei gibt es durchaus Bedarf für Veränderungen, auch jenseits der Strukturebene, auf der sich Martino im Machtvakuum nach dem Tod des jahrzehntelangen Verbandschefs Julio Grondona die Kompetenzen für den Nachwuchsbereich zusichern ließ. Die Nationalelf selbst ist trotz des guten WM-Resultats eine Baustelle. Der erste Finaleinzug seit 24 Jahren heiligte in Brasilien nur gerade so eben die Mittel. Von Martino wird erwartet, dass er den faden Catenaccio seines Vorgängers überwindet.

Der Tata kommt zwar nicht gerade wie ein Revolutionär daher, in Südamerika gilt er jedoch als Experte für progressiven Fußball. Bei Newell’s, einem der beiden Spitzenklubs seiner Heimatstadt Rosario, spielte er gegen Ende seiner Karriere unter „El Loco“ Marcelo Bielsa – der rastlose Spielstil des „Verrückten“ wurde zum Kompass seiner Trainerkarriere, die sich zunächst im Nachbarland Paraguay abspielte, wo er mit diversen Klubs Meister wurde und die Nationalelf mit dem Viertelfinaleinzug bei der WM 2010 zum größten Erfolg ihrer Geschichte führte.

Als er eigentlich ein Sabbatical plante, folgte der Ruf aus Barcelona. Martino musste mitten in der Vorbereitung für den krebskranken Tito Vilanova übernehmen und begann mit einem Startrekord. Doch stets gab er mehr den Bewunderer als den Gestalter. „Er hört viel zu und verändert wenig“, hieß es aus der Kabine, wo ihm auch veraltete Trainingsmethoden vorgeworfen wurden. Martino erging sich in Selbstbezichtigungen. Während er seine Spieler bis zuletzt feierte, befand er über sich, „der Aufgabe nicht gewachsen“ gewesen zu sein. FLORIAN HAUPT