: Ghost World in der Schweiz
20 JAHRE FUMETTO Im schweizerischen Luzern trafen neun Tage lang Comic auf Kunst, Newcomer auf Stars, Aisha Franz auf Daniel Clowes oder Noyau
VON WALDEMAR KESLER
Seit der Gründung hat sich für das Fumetto einiges geändert: Anfangs war das Comic-Festival ein regionales Event, heuer zeigt es die weltweit erste Werkschau des renommierten US-amerikanischen Comic-Künstlers Daniel Clowes, dem Zeichner und Autor von „Ghost World“. Von seinem lokalen Charakter hat es dennoch nichts eingebüßt, weil es geschickt die örtlichen Gegebenheiten nutzt, um die Zeichnerinnen und Zeichner über ganz Luzern verteilt zu präsentieren.
So macht der finnische Zeichner Tommi Musturi in einer Bahnhofsunterführung plastisch, dass er immer noch eher Underground als Mainstream ist. Seine punkigen Bilder variieren grelle Farben vor einer schwarzen Grundierung. In der Luzerner Unterführung hat er eine mit Primärfarben bestrahlte Pappkulisse aus seinem Comic „Unterwegs mit Samuel“ nachgebildet, was durchaus explosiv wirkt.
Über die ganze Stadt verteilt
Die „Satellitenausstellungen“ des Fumetto-Comicfestivals sind über alle möglichen Geschäfte, Büros und Restaurants der Stadt verteilt. Die Besucher „stolpern“ so über diverse Nachwuchskünstler beim Gang durch die Straßen, und manche werden also eher zufällige Entdeckungen machen.
In Luzern vertreten ist auch die Berlinerin Aisha Franz, die soeben ihr Debütalbum „Alien“ herausgebracht hat. Darin erzählt sie von der isolierten Lebenssituation einer alleinerziehenden Mutter und ihrer pubertierenden Töchter. Die Panelaufteilung ihrer mit Bleistift gezeichneten Comicszenen inszeniert Aisha Franz im öffentlichen Raum dadurch, dass sie die ausgestellten Skizzen hinter einem Bindfadengitter befestigte.
Das Kunstmuseum Luzern zeigte hingegen eine Werkserie des US-Amerikaners Jim Shaw. Es sind pseudoreligiöse Altarbilder, die im Stil von Wayne Boring gehalten sind, einem bedeutenden Superman-Zeichner aus dem DC Silver Age. Shaw bedient bekannte religiöse Motive wie den Sündenfall oder Moses und die Zehn Gebote, zeichnet die Handlungsträger aber als Superhelden-ähnliche Figuren. Er überfrachtet so die popkulturellen Zeichnungen mit religiösem Pathos, der Versuch einer modernen Entmythifizierung.
In welcher Beziehung allerdings Comic und bildende Künstler wie Yves Netzhammer stehen, blieb in Luzern rätselhaft. Der Installation des Schweizers Yves Netzhammer diente ein iPad zur Vermittlung. Nur wozu? Die neue Technik erweckte den Eindruck eines künstlerisch-spielzeughaften Selbstzwecks.
Ganz anders sah das bei der Retrospektive des deutschen Comiczeichners Atak aus. Dort waren über das iPad nach Themen geordnete Interviews abrufbar, in denen Atak über seine verschiedenen Arbeiten sprach. Auf diese Weise konnten die Besucher hören, aus welchen Beweggründen Atak sich überhaupt dem Comic zuwandte, nachdem er zuvor im Kunstbetrieb zu Hause gewesen war.
Für ihn war der Comic ein Protestmittel: eine Art, seine Wut zu verarbeiten, die sich während des Wehrdienstes in ihm aufgestaut hatte.
Er lernte dann die Freiheit schätzen, die ihm das Medium eröffnete. Im Gegensatz zur Kunst musste er dort keine strengen Erwartungen bedienen. Diese Erfahrung macht ihn Comic-Ausstellungen wie dem Fumetto gegenüber skeptisch: Die Bilder würden in einem Rahmen gezeigt werden, der überhaupt nicht für sie geschaffen sei.
Comic oder Hochkultur
Denselben Eindruck hatte auch Daniel Clowes, als er seine Originalzeichnungen an den Wänden sah, die vom Fumetto aus eine Welttournee antreten werden. Obwohl die großformatigen Bilder die Voraussetzung für seine Hefte und Bücher sind, betrachtet er die als das eigentliche Kunstwerk. Am Comic gefällt ihm, wie verbreitet er als Medium der Popkultur ist. Prinzipiell könne jeder daran teilhaben, wohingegen Museumsbilder nur einer sehr ausgewählten Spezies von Menschen zugänglich seien.
Es mag an der unangemessenen Präsentation liegen, dass nicht die Daniel-Clowes-Retrospektive, sondern die Zeichnungen des Schweizer Künstlers Noyau der absolute Höhepunkt des diesjährigen Fumetto waren. 150 mal 150 Zentimeter groß prangen seine schwarzen Fingerzeichnungen vor einem weißen Hintergrund.
Von der japanischen Kalligrafie inspiriert, trägt er mit seinen Fingern unverdünnt Gouache aufs Papier auf. Er zeigt Körperteile, Vögel oder Gegenstände in extrem starken Kontrasten. Wir nehmen trotz der naturgetreuen Abbildung plötzlich Hautfalten oder Proportionen völlig anders wahr. Diese Zeichnungen wirkten so intensiv, wie es die musealen Comicbilder nicht konnten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen