: Fausts Schlamm hören
Das Osnabrücker Theater zählt zu den wenigen Bühnen, die Aufführungen mit Audiodeskriptionen für Sehbehinderte anbieten. Jüngstes Beispiel: Der vom Intendanten Holger Schulze inszenierte „Faust I“. Rund 40 Sehbehinderte aus der ganzen Republik waren für ihn nach Niedersachsen gereist
AUS OSNABRÜCK ANNE REINERT
Er sei kein „ganz emsiger Theatergänger“, gesteht Thomas Nicolai. Jedenfalls, wenn es um Inszenierungen der Sparte Schauspiel geht. Musiktheater und Konzerte sind dem Berliner lieber. Allerdings, sagt er, könnte diese Vorliebe auch mit seiner besonderen Situation zu tun haben. Denn Thomas Nicolai ist sehbehindert. Außer Farben und Lichtern kann er nichts sehen.
Doch jetzt ist Thomas Nicolai, Redakteur beim Blindenmagazin „Die Gegenwart“, extra aus Berlin angereist, um sich ein Theaterstück in Osnabrück anzugucken. Denn die 44. Vorstellung des von Holger Schulze inszenierten „Faust I“ wird an diesem Abend von einer Audiodeskription begleitet. Blinde und sehbehinderte Zuschauer bekommen einen Guidereport und einen Ohrclip, über den sie einen live gesprochenen Kommentar zum Bühnengeschehen hören. Auch für die Orientierung im Theater ist gesorgt. Denn sobald sie sich der Garderobe, der Bar oder der Toilette nähern, erklingt eine Stimme, die ihnen die räumlichen Gegebenheiten schildert.
40 Sehbehinderte und Blinde sowie 30 Begleiter sind aus halb Deutschland nach Osnabrück gereist. Denn eine Theateraufführung mit Audiodeskription ist eine Rarität. Dreimal jährlich gebe es in Deutschland eine solche Aufführung, sagt Anke Nicolai, Vorsitzende der Hörfilm e. V., die für die Audiodeskription zuständig ist. Das liege einerseits daran, dass viele Bühnen die Bedürfnisse Blinder und Sehbehinderter vergäßen. Andererseits an Kosten und Aufwand. 8.500 Euro zusätzlich kostet der „Faust“-Abend, den die Hörfilm e. V. über Sponsorengelder finanzieren muss. Außerdem musste man im Theater eine Art Konferenztechnik installieren.
Für Osnabrück war das bereits die zweite Aufführung mit Audiodeskription. Im letzten Jahr war es „Cyrano de Bergerac“, in der nächsten Spielzeit wird es das Weihnachtsmärchen sein. Osnabrück ist damit die bisher einzige Bühne in Niedersachsen, die Aufführungen für Sehbehinderte anbietet, und die erste Bühne in Deutschland, die das zum zweiten Mal tut. Nur in München, Konstanz und Kiel gibt es ähnliche Projekte.
Dabei sind solche Projekte dringend nötig: 500.000 Blinde und Sehbehinderte gibt es derzeit in Deutschland – eine Klientel, für die der Theaterbesuch eine besondere Hürde darstellt: Mimik, Gestik, Kostüme, Bühnenbild sind zum Anschauen da. Selbst ein dialoglastiges Stück wie „Faust I“ setzt auch auf visuelle Effekte. Ein mit Schlamm überschütteter Faust, ein Gretchen, das mit nacktem Oberkörper am Kreuz hängt – nur der Guidereport kann dies dem Sehbehinderten vermitteln.
Die Logik ist klar: Für Blinde und Sehbehinderte muss das Schauspiel zum Hörspiel werden. Diese Aufgabe übernimmt Anke Nicolai. Schon wenige Minuten vor Aufführungsbeginn beschreibt sie über den Guidereport das Bühnenbild. Dann beginnt die Vorstellung. Nicolai beschreibt die Schatten der Erzengel und den Gottes, der immer größer wird.
Der Vorhang hebt sich, Faust tritt auf. Anke Nicolai beschreibt seinen Anzug, seine Geheimratsecken und die Bücher, die er in die Hand nimmt und wieder wegwirft. Sieben Tage lang haben zwei sehende und ein blinder Filmbeschreiber an dem Text für den Osnabrücker „Faust“ gearbeitet. Denjenigen, die dem Guidereport lauschen, scheinen angetan. „Ohne Audiodeskription hätte man als Blinder die Vorstellung gar nicht verfolgen können“, sagt Roswitha Röding. Sie war nicht immer blind. Und so ist es für sie vor allem wichtig, mehr über die Farben und die Gesten auf der Bühne zu erfahren, damit sie sich ihr eigenes Bild im Kopf machen kann.
Roswitha Röding hat auch an dem Theaterworkshop teilgenommen, der am Nachmittag angeboten wurde. 14 Blinde und Sehbehinderte waren dabei. „So etwas habe ich zum ersten Mal gemacht“, sagt Roswitha Röding und beschreibt, wie sie „Faust“-Szenen nachgespielt haben. Außerdem gab es eine Stadt- und eine Theaterführung; besonders authentisch hier: das Betasten von Kostümstoffen und Bühnenböden. Gewissermaßen hätten die sehbehinderten Theatergänger also mehr gesehen als die Sehenden, sagt eine Zuschauerin.
Doch alles haben sie nicht mitbekommen. Dass der Mephisto sich in der Walpurgisnacht bekreuzigt habe, habe ihm seine Begleiterin zuflüstern müssen, sagt ein blinder Mann. Doch das konnte auch niemand vorausahnen, wie der Mephisto-Darsteller Steffen Gangloff erklärt. „Das ist mir heute zum ersten Mal passiert.“
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