Gratwanderung durch Sadr City

Ihre Roller haben sie in Reih und Glied aufgestellt, als wollten sie gleich zu einer Wochenendrallye starten Doch niemand vermag zu sagen, wie lange der Burgfriede mit den Amerikanern hält

AUS SADR CITY INGA ROGG

Sadr City ist kaum wiederzuerkennen. Die Müllberge sind weg. Die Freiflächen und breiten Straßen wurden aufgeräumt. Der beißende Geruch von brennenden Abfällen und Plastikteilen, der einem schon am Ortseingang in die Nase stieg, ist verschwunden. Vor allem aber sind die Sprengstofffallen abgebaut, durch die sich der Fahrer beim letzten Besuch noch mühsam schlängeln musste. Das schiitische Armenhaus im Nordosten von Bagdad wirkt fast proper herausgeputzt. Die Krater von den Sprengsätzen sind zugeschüttet und geteert, die Spuren der schweren Bombenanschläge, die in den vergangenen Monaten hunderte Tote gefordert haben, beseitigt, und selbst die kleinen Seitenstraßen sind frisch gekehrt. Nirgendwo lungern halbwüchsige Männer mit vermummten Gesichtern und Kalaschnikow herum, die sich früher im Namen des Predigers Muktada al-Sadr als selbst ernannte Ordnungsmacht aufspielten.

An der wichtigsten Zufahrt vom Bagdader Zentrum in den Vorort hat eine irakische Armeepatrouille Stellung bezogen. Durch die für die Hauptstadt inzwischen typischen Betonwände und Barrikaden ist die vierspurige Verbindungsstraße auf eine Spur verengt, jedes Auto wird von den Soldaten penibel kontrolliert. „Sehen Sie, das ist das Ergebnis der Besetzung“, sagt Dr. Maha Adelmahdi. „Die Amerikaner bringen uns nur Not und Gewalt.“ Die 35-jährige Ärztin ist Abgeordnete im irakischen Repräsentantenhaus und eine der bekanntesten Vertreterinnen des Sadr-Blocks. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Intisar Dschassem Ali fährt sie mit uns nach Sadr City, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Sie will uns zeigen, dass die Gewalt hier der Vergangenheit angehört und es die Amerikaner nicht braucht, um Ordnung zu schaffen.

Im Rahmen des neuen Sicherheitsplans für Bagdad haben die Sadristen in den Rückzug der Kämpfer ihrer Mahdi-Armee und in Razzien in ihrem Millionenquartier eingewilligt. Die Auflösung der Miliz ist eine der Hauptforderungen der Sunniten, und die Amerikaner sind ersichtlich darum bemüht, den Teufelskreis der religiösen Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten zu durchbrechen, indem sie gegen die Übeltäter auf beiden Seiten gleichermaßen vorgehen. Rund 700 Milizionäre wurden nach Angaben des amerikanischen Militärs seit Beginn der Offensive Mitte Februar festgenommen.

Als amerikanisch-irakische Patrouillen vor gut zwei Wochen Sadr City durchkämmten, gingen die Razzien weitgehend friedlich über die Bühne. Doch bewegen sich die Amerikaner dabei auf einem schmalen Grat.

Nisan Abbas lässt kein gutes Haar an den ausländischen Soldaten. Der 25-Jährige gehört zur persönlichen Leibwache der Abgeordneten Intisar Dschassem Ali. Trotzdem wurde er in jener Nacht Anfang März festgenommen. Um etwa halb vier Uhr morgens habe es in der engen Seitengasse, in der seine Familie lebt, plötzlich einen Höllenlärm gegeben, sagt Nisan. Ein Trupp von kurdischen und amerikanischen Soldaten sei in das kleine Haus der Familie eingedrungen, habe Frauen und Männer voneinander getrennt und dann alles komplett auf den Kopf gestellt. „Sie kamen wie die Diebe mitten in der Nacht.“ Nicht nur konfiszierten die Soldaten während der Razzia seine Waffe, für die er als Leibwächter eine Sondergenehmigung besitzt. Sie hätten auch den Goldschmuck seiner Frau und seine Ersparnisse in Höhe von umgerechnet 1.500 Dollar gestohlen.

„Mit dem Geld wollten wir endlich das Haus renovieren“, sagt Nisan. Das Haus ist eng, acht Personen müssen sich zwei kleine Räume teilen. Ein kaum mehr als acht Quadratmeter großes Zimmerchen dient Nisan und seiner Frau als Wohn-, Schlaf- und Esszimmer. Von den Zimmerecken blicken in Goldrahmen Imam Ali und sein Sohn Hussein auf die Besucher herab. Zwischen ihnen hängt eine Fotomontage mit den beiden berühmten Geistlichen der Sadr-Familie, Mohammed Baker und Mohammed Sadek al-Sadr. Ein Vitrinenschrank, in dem neben Kleidern und Geschirr auch die Schlafmatten verstaut sind, ein Fernseher sowie eine neue Kühltruhe und ein großer Kühlschrank, die Nisan Abbas auf Kredit angeschafft hat, füllen fast die Hälfte des Raums. Von den Wänden bröckelt die Farbe, am Boden ist statt eines Teppichs eine billige Plastikmatte ausgebreitet, ein alter Läufer dient als Sitzgelegenheit. „Nun kann ich sehen, wie ich meine Schulden abbezahle“, sagt Nisan.

Gemeinsam mit dem Leibwächter wurden in jener Nacht 15 weitere Männer festgenommen. In der Nachbarschaft von Sami Dschaudar Maha durchsuchten die Soldaten gleich mehrere Häuser. Dabei nahmen sie Samis Bruder sowie den Nachbarn Mohammed Kassem Faradsch und dessen drei Brüder fest. Im Nu versammeln sich die Männer in dem armseligen Wohnzimmer von Sami. Alle klagen sie über die demütigende Behandlung durch die Amerikaner. Wie der Leibwächter Nisan werfen sie ihnen vor, ihren Glauben und den Regierungschef Nuri al-Maliki unflätig beschimpft zu haben. „Saddam Hussein war die Krone auf eurem Haupt“, habe der ägyptische Übersetzer der Amerikaner sie angeschnauzt. Nach ihrer Festnahme wurden die Männer auf die US-Basis am Bagdader Flughafen gebracht, wo sie am späten Nachmittag wieder freigelassen wurden.

Bisher habe er mit den Milizionären nichts zu tun gehabt, sagt Mohammed Kassem Faradsch. „Ich bin seit sechs Jahren Ambulanzfahrer und kein Kämpfer.“ Jetzt überlege er sich jedoch ernsthaft, Mitglied der Mahdi-Armee zu werden. Auch Sami spielt mit diesem Gedanken. Dabei ist der Polizist kein Anhänger von Sadr, sondern von Grossajatollah Ali Sistani, der den Schiiten die schwere Aufgabe auferlegt hat, trotz der unzähligen Bombenanschläge von sunnitischen Extremisten Ruhe zu bewahren. „Die Mahdi-Armee ist die einzige, die uns schützen kann“, sagt der Polizist. „Ich bin zu allem bereit.“

Auf dem Sportplatz vor Samis Haus spielen Jugendliche Fußball. Direkt davor hat sich eine Gruppe von jungen Männern mit ihren Rollern versammelt. Ihre Gefährte haben sie auf Hochglanz poliert und in Reih und Glied aufgestellt, als wollten sie gleich zu einer Wochenendrallye starten. In der Nähe hat ein Bauer seine kleine Schaf- und Ziegenherde in einen Zaun gepfercht. In kleinen Werkstätten wird geschmiedet und gezimmert. Obwohl auch in Sadr City viele Geschäfte geschlossen sind, gibt es ein weitgehend normales Marktleben. Auch zahlreiche Frauen sind unterwegs. Sie sind tief in Schwarz gehüllt, aber das war hier immer so. Im Vergleich mit vielen anderen Quartieren der Stadt wirkt der Vorort an diesem Tag beinahe wie eine Oase des Friedens. Aus allen Ecken und Enden lugt freilich die Armut hervor. „Es gibt keinen Grund, dass die Amerikaner hier nicht investieren“, sagt die Abgeordnete Maha Adelmahdi. Die Amerikaner? „Nein, nein, die Regierung“, korrigiert sie schnell.

Auf US-Soldaten treffen wir in dem Ort, in dem mit rund zwei Millionen Einwohnern ein Drittel der Hauptstädter lebt, an diesem Tag nicht. Nur zweimal taucht eine Polizeikontrolle auf. Die Amerikaner haben auf der Polizeiwache Station bezogen. Ausgehandelt hat dies der Stadtrat von Sadr City, der von den Amerikanern zugleich den Bau eines Vergnügungsparks erbat. Offenbar passt dieser Burgfrieden nicht allen Sadristen. Ende vergangener Woche überlebte der Bürgermeister, Rahim Darradschi, nur knapp einen Mordanschlag, zwei seiner Leibwächter wurden getötet. Sie habe mit Darradschi nichts zu tun, sagt Adelmahdi spröde. Tags darauf meldete sich auch Muktada al-Sadr, der seit Wochen von Iraks Bühne verschwunden ist, wieder einmal zu Wort. „Erhebt eure Stimmen gegen den großen Teufel Amerika“, ließ er über einen Geistlichen verkünden. „Nein zu Amerika! Nein zur Besetzung!“, skandierten anschließend rund 2.000 Demonstranten. Im Vergleich mit früheren Aufmärschen war das nichts.

Doch schon zweimal haben sich die Milizionäre, die nach Lesart der Sadristen Glaubenskämpfer sind, schwere Gefechte mit den Amerikanern geliefert. Trotz der Verluste, die sie dabei erlitten, gingen die Sadristen dabei am Ende politisch jeweils gestärkt hervor. Mit ihrer Mischung aus schiitischem Erlösungsgedanken, der auf die Namengebung der Mahdi-Armee Muktada al-Sadrs anspielt, politischer Teilnahme und Militanz, sind sie zur größten Massenbewegung der Nach-Saddam-Ära aufgestiegen. Ranghöhere Geistliche und Politiker mögen Muktada al-Sadr wegen seiner ungehobelten Sprache belächeln, doch seine Bewegung ist vorläufig das bedeutendste Produkt der Ära nach Saddam.

Zurzeit halten sich die Sadr-Kämpfer zurück. Die ihnen angelasteten Fememorde sind seltener geworden. Doch niemand vermag zu sagen, wie lange der Burgfriede mit den Amerikanern hält. Bevor wir Sadr City wieder verlassen, zeigen uns die Abgeordneten noch die sunnitische Moschee, die vor vier Wochen auf Geheiß von al-Sadr wiedereröffnet wurde. „Sehen Sie, wir sind zum Frieden bereit“, sagt Adelmahdi. Obwohl die Ärztin und ihre Kollegin, die früher Lehrerin war, neu sind im politischen Geschäft, betreiben sie ihre Aufgabe mit großer Leidenschaft. Im Gegensatz zu vielen anderen Abgeordneten lassen sie kaum eine Parlamentssitzung aus.

Während aus dem Kassettenrekorder fromme schiitische Rezitationen erklingen, chauffiert uns Abu Nur, der Ehemann von Adelmahdi, zurück ins Zentrum. Dabei überrascht er uns mit einer offenen Liebeserklärung an seine 35-jährige Frau. „Ich habe sie aus Liebe geheiratet und liebe sie bis auf den heutigen Tag“, sagt Abu Nur. „Es ist wunderbar, eine so engagierte Frau zu haben.“ Als er fortfahren will, unterbricht ihn seine Frau rüde. „Es reicht jetzt“, sagt die Abgeordnete.

Dann verschwindet das Paar in die Grüne Zone, wo sie eine Wohnung haben – gut bewacht von den ungeliebten Amerikanern.