Sozialhilfeantrag der besonderen Art

Aus Liebe zu einem früheren Kunden hat eine Mitarbeiterin des Sozialamts Lichtenberg rund 740.000 Euro veruntreut. Das Berliner Landgericht verurteilt sie deswegen zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten Haft

Die Vorsitzende Richterin ist schonungslos: „Sie sind in das Lügengebilde eines Betrügers verstrickt worden“, sagte sie zur Angeklagten Ingrid S. Kurz zuvor ist die 48-Jährige, ehemalige Angestellte beim Sozialamt Lichtenberg, wegen Bestechlichkeit und Untreue im besonders schweren Fall vom Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Es ist das erste Urteil in dem Verfahren um veruntreute Gelder aus dem Sozialamt in einer Gesamthöhe von rund 740.000 Euro. Das Verfahren gegen die beiden Mitangeklagten, den 58-jährigen Klaus B. und den 52-jährigen Siegfried R., wird am Montag fortgesetzt.

Im August 2002 lernte die füllige Frau, an der nur die kurzen, knallroten Haare auffallen, Klaus B. im Sozialamt Lichtenberg kennen. Er war Sozialhilfeempfänger, Ingrid S. vertrat eine Kollegin. „Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden“, sagt Klaus B. Ab Anfang November 2003 sind die beiden dann ein Paar. Die seit vier Jahren geschiedene Frau präsentiert ihren neuen Freund ihren vier jugendlichen Kindern, ihrer Mutter, ihren Freunden – alle mögen den Mann mit den guten Manieren.

Er erzählt ihr von seiner Arbeit auf der Bohrinsel und von einer Werft in Holland, für die er jetzt eine Nebenstelle in Zypern eröffnen soll. Dafür brauche er Geld. Ob sie nicht bei der Auszahlung von Sozialhilfe etwas manipulieren könne? Die verliebte Sachbearbeiterin ging darauf ein und bestellte Klaus B. im Dezember 2003 das erste Mal zur Abholung einer einmaligen Beihilfe von rund 1.500 Euro. Dazu aktivierte sie einen abgeschlossenen Sozialhilfevorgang am Computer, fertigte eine Auszahlungsanordnung mit einer Summe unter 2.500 Euro an, trug B. als Abholungsberechtigten ein und druckte das Papier aus. Anschließend löschte sie die Datensätze. „Es war ganz einfach, sogar für jemanden wie mich, der kaum Computerkenntnisse hat“, sagt Ingrid S. vor Gericht.

Kurz darauf hat sie die Idee, die Anordnungen gleich doppelt auszudrucken, so dass ihr Geliebter an einem Tag zu beiden Auszahlungskassen im Sozialamt Lichtenberg gehen konnte. Ein Jahr lang verfuhren sie so – bis zum 30. Dezember 2004. Mit der Umstellung auf Hartz IV wechselten die meisten Sozialhilfeempfänger zu den Arbeitsagenturen. Das bewährte Betrugsverfahren „funktionierte nicht mehr“, sagt die Angeklagte.

Sie war nun mit dem Aufarbeiten von Altakten beschäftigt. Da kam es öfter vor, dass große Summen bis zu 10.000 Euro für Arztbehandlungen oder Unterkunftskosten überwiesen wurden. Analog änderte Ingrid S. ihr Vorgehen und überwies nun auf das Konto von Klaus B.

Ihr gegenüber begründete B. seine Geldforderungen mit Personal- und Materialkosten. Manchmal legte er ihr 2.000 Euro hin, bevor er wieder verreiste und sie ohne eine Adresse oder Telefonnummer auf ihn wartete. Einmal nahm er S. und ihre Tochter mit auf eine Reise nach Gran Canaria.

Im Dezember 2005 schied die Sachbearbeiterin freiwillig aus dem Sozialamt Lichtenberg. „Ich habe dem Druck nicht mehr standgehalten“, begründet sie diesen Schritt. Mit Druck meint sie die Last des schlechten Gewissens. Sie erhält eine Abfindung von 79.000 Euro und investiert 60.000 Euro in die zypriotische Werft, von der ihr Klaus B. im Februar 2004 eine Urkunde gezeigt hatte, die ihn als Vorstand auswies. „Mir war klar, dass es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, weil das Bezirksamt die hohen Summen merken muss. Aber wenn die Firma in Zypern läuft, ist die Gerichtsverhandlung nicht so problematisch“, habe sie damals gedacht.

Inzwischen weiß sie, dass sie einem Betrüger aufgesessen ist. B. sagt: „Ich hatte kein Geld und habe es mir so verschafft. Ich habe kein Verhältnis zum Geld. Ich bin gereist und in Spielkasinos gegangen. Das ist meine große Leidenschaft.“ UTA FALCK