: Zweite Lebenslüge
Im Hype um die Online-Parallelgesellschaft „Second Life“ haben sich die klassischen Medien kräftig einlullen lassen. Kritik am Geschäft mit den Avataren mussten bislang die Blogger erledigen
VON MARTIN SCHÖB
Seit Wochen tönt es aus allen Ecken von Avataren, Linden-Dollars, Parallelwelten und den schier unvorstellbaren Möglichkeiten des „Second Life“ (SL). Die „Tagesthemen“ konnten das Online-Spiel ebenso wenig bei sich behalten wie die Zeit. Da ließ sich der Spiegel natürlich erst recht nicht lumpen, brachte eine dickbusige „Second Life“-Bewohnerin auf den Titel und erklärte den Entwickler eines Online-Spiels zum „folgenreichsten Weltenerschaffer und Gemeinschaftsstifter seit Moses, Karl Marx und Thomas Jefferson“. Spiegel Online versteigt sich gar zu einem wöchentlichen „Second Life“-Tagebuch und will das womöglich als investigativen Journalismus verstanden wissen.
Man kann dem Betreiber Linden Lab nur gratulieren: Selten dürfte ein Unternehmen mit so wenig Aufwand so viel unbezahlte PR in den besten medialen Kreisen bekommen haben. Nichts war banal genug, um nicht zigfach und ungeprüft nachgedruckt zu werden – Nutzerzahlen, echte und virtuelle Dollartransaktionen immensen Ausmaßes, vom Pixelsetzer zum Millionär!
Wer „Second Life“ für die Zukunft des Internets hält, kann nach einem Besuch der Parallelwelt nur maßlos ernüchtert sein. Eine Erfahrung, die den meisten Autoren einschlägiger Artikel wohl ebenso erspart geblieben ist wie den laut Capital von der „künstlichen Realität regelrecht elektrisierten Top-Promis“ Utz Claassen und Klaus Schwab. Die nötige Software installieren, den klobigen Avatar ausstatten, fliegen und wegen Serverüberlastung rausfliegen, die altertümliche Grobgrafik erleben – das alles getestet zu haben darf man doch erwarten von einem, der genau darüber schreibt.
Auch ein Blick in die Geschäftsbedingungen von Linden Lab sollte nicht zu viel verlangt sein. Danach wüsste man unter anderem, dass man als SL-Spieler an nichts als den eigenen gestalterischen Ideen Eigentumsrechte erwirbt. Linden Lab kann jederzeit und ohne Angabe von Gründen den Betrieb komplett einstellen. Wer dann noch auf die „Second Life“-Website schaut, wird auch die Mär vom wundersamen Wachstum nicht mehr einfach nachbeten können. Von den angeblich viereinhalb Millionen registrierten Bewohnern sind selten mehr als 25.000 gleichzeitig online – weltweit wohlgemerkt.
Wie viele Nutzer haben mehrere Avatare? Wie viele haben sich nur wegen des Medienrummels angemeldet und lassen ihren Zugang seitdem völlig ungenutzt? Wie viele hätten sich längst wieder abgemeldet, wenn das nur halb so einfach wäre wie die Anmeldung? Wo ist die elektronische schwedische Botschaft, die Ende Januar überall groß angekündigt wurde? Und wenn sich die neue C-Klasse von Mercedes im Hier und Jetzt so fährt, wie es eine Testfahrt in der Parallelwelt befürchten lässt, seien die DaimlerChrysler-Aktionäre schon mal vorgewarnt.
„Second Life“ selbst ist nicht das Hauptproblem. Jeder darf sich nach seiner Façon langweilen. Der schlampige mediale Umgang mit einem anarchokapitalistischen Online-Spiel, das von einem einzelnen privaten Unternehmen gesteuert wird – das gibt zu denken. So viel Selbstkritik muss sein: Diese Runde der oft überzogenen Auseinandersetzung zwischen Print- und Onlinemedien geht klar an Letztere. Viele Blogger stellen schon längst kritische Fragen. Der Amerikaner Randolph Harrison etwa analysiert auf http://randolfe.typepad.com ausführlich die ökonomischen Fragwürdigkeiten von „Second Life“.
Nick Schader, Multimedia-Redakteur beim Südwestrundfunk, hat das reale Spektakel um das virtuelle Vakuum von Anfang an verfolgt – und hält es für einen Skandal: „Second Life ist nichts anderes als ein modernes Pyramidenspiel. Die große Masse an Spielern zahlt drauf, nur ganz wenige Spieler oder Firmen verdienen tatsächlich etwas Geld. Nur bei Linden Lab klingelt wirklich die Kasse, bei jeder einzelnen Transaktion.“ (siehe Kasten)
Wenige Jahre sind vergangen, seit die erste Internetblase geplatzt ist. Wer damals möglichst häufig „Internet“ in seinen Businessplan schrieb, kam sehr schnell an sehr viel Geld. Jetzt werden wieder sagenhafte Summen ausgegeben – für nichts als das Dabeisein. Statt kräftig mitzublasen, sollten Journalisten mit Nadeln parat stehen. Journalismus 1.0 gewissermaßen, zu dem neben Neugierde auch Skepsis gehört – und Recherche.
Bei Spiegel.de haben sich übrigens so viele unfreundliche E-Mails wegen des SL-Hypes angesammelt, dass Redakteur Christian Stöcker sich vorgestern zu einer Antwort genötigt sah. Tatsächlich sei das meiste, was über Second Life geschrieben werde, „schlecht informiertes Hype-Gejubel oder Selbstvermarktung“. Doch sein versöhnliches Fazit bleibt: „Dieses Prinzip, Weltsimulation in 3-D, geht nicht mehr weg.“ Der alarmierte Kommentar von User Amidasu: „Anstatt die berechtigte Kritik eurer Leser wahrzunehmen, geht ihr auf Trotzhaltung. Und das nennt ihr Journalismus?“
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