Die, die nicht stehen bleibt

Betül Durmaz ist eine Rarität unter den Lehrern hierzulande. Mit ihrer Biografie will sie Migrantenkindern Mut machen

AUS GELSENKIRCHEN CIGDEM AKYOL

Auf den ersten Blick erscheint das Gelsenkirchener Klassenzimmer wie jedes andere auch. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, über der Tür strahlt eine Pappsonne, und die Fenster schmücken goldene Papierherzen. Sechs Jungs, manche mit gegelten Haaren, sitzen in den hinteren Reihen, vorne zwei schüchtern wirkende Mädchen mit einem Zahnspangengrinsen. Was diese Klasse aber anders macht, ist ihre Lehrerin: Betül Durmaz ist türkischer Abstammung und damit eine Seltenheit in der deutschen Bildungslandschaft.

Seit sechs Jahren unterrichtet Betül Durmaz in der Gelsenkirchener Förderschule an der Malteserstraße, wenige Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, im Stadtteil Neustadt. Eine Gegend, in der die Bewohner ihren Sperrmüll einfach auf der Straße entsorgen und in asiatischen Imbissbuden Hartz-IV-Empfänger sitzen. Dort sind für viele Deutsche die Ausländer Gemüsehändler oder Döner-Verkäufer. Man lebt zusammen, aber man kennt sich nicht – und hier, weit weg von hauptstädtischen Debatten, kämpft Durmaz täglich den Kampf um die Integration.

Die zierliche Frau mit den dicken schwarzen Haaren hat gemeinsam mit ihren Schülern eine große Weltkarte gebastelt. „Denn wir verkörpern die Welt“, sagt sie lachend. In ihrer Klasse sitzen Kinder aus der Türkei, dem Libanon und Albanien. Nur zwei sind deutscher Herkunft. Insgesamt 61 Prozent aller Schüler der Förderschule an der Malteserstraße haben einen Migrationshintergrund. Beim Lehrerkollegium ist es umgekehrt. Von den 26 Pädagogen der Schule kann Durmaz als einzige Lehrerin eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen. Diese Zahlen spiegeln die generelle Situation an Deutschlands Schulen wider. Zwar wird das Bildungssystem von kultureller, religiöser und sprachlicher Vielfalt geprägt, aber nur durch die Schülerschaft. Jedes vierte Kind und jeder vierte Jugendliche im bildungsrelevanten Alter (bis zum 25. Lebensjahr) stammt aus einer Einwandererfamilie, aber nur 1 Prozent der 740.000 Lehrer an deutschen Schulen sind nichtdeutscher Herkunft.

Sie löse bei einigen Eltern auch Verwunderung aus, erzählt Durmaz. „Die Deutschen sind irritiert, die Ausländer freuen sich.“ Aber als Exotin will Durmaz nicht betrachtet werden. „Damit wird wieder ein Anderssein an mich herangetragen“, sagt die 39-Jährige, „schließlich mache ich meine Arbeit wie andere Lehrer auch.“

Wer sich ihren Unterricht anschaut, bekommt eine Ahnung davon, was die Lehrerin jeden Tag leistet: In der Deutschstunde erklärt sie ihren Schülern fünfmal hintereinander, dass Verben klein geschrieben werden. Trotzdem vergessen manche dieses einfache Prinzip schon nach wenigen Minuten wieder. Die meisten Kinder an dieser Schule kennen zwar das Fernsehprogramm, aber die einfachsten grammatischen Regeln überfordern sie. Obwohl die Kinder immer die gleichen Fragen stellen, bleibt Durmaz ruhig. Sie geht von Tisch zu Tisch, schaut ihren Schülern über die Schulter, schimpft mit ihnen, aber lobt sie auch. Als ein Schüler in der Mathestunde schiefe Striche zeichnet, bemerkt sie ironisch: „Es gibt eine Erfindung, die heißt Lineal.“

Weil sie den schwierigen Spagat zwischen den Kulturen kennt, möchte sie den Schülern mit ihrer eigenen Biografie Mut machen. „Durch meine Herkunft weiß ich, was viele meiner Schüler empfinden“, sagt Durmaz. Das verschafft ihr auch eine besondere Akzeptanz bei Kindern und Eltern. „Muslimbonus“ nennt sie das.

Ihre Herkunft führt aber auch zu Anfeindungen. „Für muslimische Hardliner bin ich eine Reizfigur“, erzählt sie. Ein libanesischer Schüler habe sie wüst beschimpft, als „schlechte Muslimin“ und „Schlampe“. Durmaz nahm das nicht so einfach hin, sie lässt sich nicht beleidigen. Die Schule beschloss, den Jungen anzuklagen, und er wurde vor Gericht zu 80 Sozialstunden verdonnert, erzählt Durmaz, und Genugtuung hebt ihre Stimme. „Ich respektiere die Lebensweisen meiner Schüler und verlange das Gleiche von ihnen.“

Das Problem der benachteiligten Migrantenkinder wird von Bildungspolitikern gerne lautstark beklagt, aber gehandelt wurde bisher wenig. Die Zahlen verdeutlichen, dass das deutsche Bildungssystem Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte gut gebrauchen könnte. Solche wie Betül Durmaz, die zehn Jahre lang als Stewardess bei der Lufthansa jobbte, um sich ihr Lehramtsstudium zu finanzieren. Als Vorbilder, damit den Schülern gezeigt wird, dass die eigene Nationalität nicht nur Döner verkauft oder putzt. Als Vermittler zwischen Schülern und Eltern, weil ausländische Lehrer die Parallelwelt ihrer Schüler besser verstehen können. „Die Schülerschaft muss sich umfassend mit den Lehrern identifizieren können“, sagt Sanem Kleff von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.

Wie wichtig Lehrer mit Migrationshintergrund für das Sozialleben sind, hat man auch anderswo erkannt: „Keine Gettolehrer für Gettoschulen“, fordert Ludwig Eckinger vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Deshalb möchte er, dass Lehrer aus Zuwandererfamilien für jede Schulart ausgebildet werden.

Durmaz aber fühlt sich nicht als „Gettolehrerin in einer Gettoschule“. „An einem Gymnasium möchte ich nicht unterrichten“, versichert sie. „Wenn die Tochter eines Anwalts eine zwei schreibt, hat man nämlich direkt die Eltern in der Klasse stehen.“ Sie möchte nicht im Elfenbeinturm sitzen, sie möchte ihre Schüler verstehen.

Die Regeln für den Schulalltag, die an der Klassentür hängen, zeigen, dass es hier anders als auf Schloss Salem zugeht. So werden die Schüler aufgefordert, nicht durch das Klassenzimmer zu rennen und keine Waffen mitzubringen. Mitten im Unterricht klopft eine Schülerin an und fragt nach einer Unterschrift, die das Sozialamt braucht, um ihr die Klassenfahrt zu bezahlen. Solche Unterbrechungen sind hier Normalität.

„Etwa 80 Prozent meiner Arbeit sind Sozialarbeit“, erzählt Durmaz und berichtet von Kindern, die im Winter mit Sommerschlappen und im T-Shirt zu ihr in die Schule kommen. In solchen Situationen wird Durmaz klar, dass ihr Einfluss gering ist. „Ich kann nicht die Welt retten“, weiß sie, „aber ich kann für meine Schüler da sein.“ Dabei wirkt sie kämpferisch. Durmaz heißt übrigens übersetzt „Die, die nicht stehen bleibt“.